Skip to main content

Full text of "Ueber Reinheit der Baukunst auf Grund des Ursprungs der vier Haupt-baustyle .."

See other formats


/ 


Ulrich  Middeldorf 


UEBER 


REINHEIT 

DER  * 

BAUKUNST 

AUF 

GRUND  DES  URSPRUNGS 

DER  VIER  HAUPT-RAUSTYLE 

VON 

P.  W.  FÖRCH  HAMMER, 


MIT  NEUN  BILDTAFELN. 


HAMBURG. 

PERTHES -BESSER  <ft 

1  8  5  6. 


M  AUK  E. 


DEM  ANDENKEN 

AN  DIE  FREUDE 
IN  WEITEN  KREISEN  LAUT  BEZEUGTE 
UND  STILL  GEHEGTE 

OB  DER  GENESUNG 
DES    HOHEN   DEUTSCHEN  BAUHERRN 

KÖNIGS  LUDWIG  VON  BAYERN 

UND  DER  HOFFNUNG 
DIE  VORSEHUNG  WOLLE  IHM  GEWÄHREN 

DES  DENKMALS 

AUF  HOHEM  FELS  AM  STOLZ  WALLENDEN  STROM 
MAHNEND  ZU  KRAFT  UND  BEHARREN 
IM  EDLEN  DIENST 
DER  FREIHEIT 
DES  MÄCHTIGEN  DENKMALS 
GROSSER  KÄMPFE   UND  GROSSER  SIEGE 
VOLLENDUNG 
ZU  ÜBERLEBEN 
IN  GLÜCKLICHEN  JAHREN. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2013 


http://archive.org/details/ueberreinheitderOOforc 


I  n  Athen,  dessen  Gebiet  nicht  grösser  war 
als  das  Dreieck  zwischen  Hamburg  Lübeck  und 
Kiel,  lebte  zur  Zeit  der  höchsten,  bisher  nicht  wieder 
erreichten  Bluthe  geistiger  Entwicklung  der  Architekt 
Hippodamos.  Er  war  geboren  in  dem  glücklichsten, 
jetzt  fast  verödeten  Strich  Landes,  in  dem  Ionischen 
Klein-Asien.  Der  Besitz  einer  umfassenden  Bildung 
stellte  ihn  unter  die  Besten  seiner  Zeit;  in  seiner 
Kunst  aber  war  er  wie  wenige  ein  Meister.  Er 
hatte  das  Glück  ,  dass  ihm  die  grössten  architekto- 
nischen Aufgaben  zu  Theil  wurden.  Nicht  nur  Wohn- 
hauser, Staatsgebäude,  Tempel,  Theater  hatte  er  zu 
bauen,  sondern  ganze  Städte.  Drei  unter  den  durch 
ihre  Schönheit  berühmtesten  Städten  des  Alterthums 
waren  nach  seinem  Plan  und  durch  ihn  erbaut.  Wahr- 
scheinlich auf  Betrieb  des  Perikles  übertrugen  ihm  die 

1 


2 


Athener  den  Bau  des  Piräus,  und  nannten  den  Markt- 
platz daselbst  ihm  zu  Ehren  die  Hippodameia.  Als 
dann  die  Athener  in  der  Nahe  des  zerstörten  Svbaris 
die  Stadt  Thurii  in  Unteritalien  gründeten,  war  Hip- 
podamos  wieder  der  Stadterbauer.  Zuletzt  baute  er 
die  schönste  der  Städte,  Rhodos,  auf  der  gleichnamigen 
Insel.  Freilich  hatte  er  wohl  in  einer  Beziehung 
leichter  bauen ,  als  viele  andere.  Weder  Privatin- 
teresse noch  Unwissenheit  noch  Laune  hatten  ihm 
etwas  darein  zu  reden.  Seine  Auctorität  gründete 
sich  aber  auch  nicht  bloss  auf  seine  architektonischen 
Kenntnisse,  vielmehr  betheiligte  er  sich  auch  an  an- 
dern Wissenschaften.  Wie  er  sich  mit  der  ge- 
sammten  Naturkunde  beschäftigte  ,  so  war  er  unter 
allen  der  erste  Privatmann,  der  über  die  beste  Staats- 
verfassung schrieb ,  und  jemehr  im  Alterthum  die 
Begriffe  Stadt  und  Staat  zusammenfielen,  desto  mehr 
musste  die  vom  Architekten  zu  aller  Zeit  geforderte 
universelle  Bildung  ihn,  den  Städteerbauer,  auf  Fragen 
führen,  die  mit  dem  Bau  des  Staats  zusammenhingen. 
Unter  mehreren  von  ihm  zuerst  angeregten  Ideen 
werden  uns  vom  Aristoteles  drei  genannt ,  die  wir 
hier  erwähnen  wollen.  Er  zuerst  hat  darauf  ge- 
drungen ,  dass  für  wichtige  Erfindungen  vom  Staat 
Belohnungen  zuerkannt  würden;  er  zuerst  hat  gefor- 
dert ,  was  hernach  in  Athen  und  später  in  vielen 
Staaten  ausgeführt  ist,  dass  die  Kinder  der  im  Kriege 
Gefallenen  von  Staatswegen  ernährt  und  auferzogen 
würden;  er  endlich  ist  der  Erfinder  der  Apellations- 


8 


gerichte  —  da  früher  von  einer  Berufung  von  einem 
Gericht  auf  ein  höheres  nicht  die  Rede  gewesen  war. 

Wenn  nun  die  Architektonik  diesen  Meister 
dahin  führte  ,  dass  er  sich  zugleich  so  grosse  Ver- 
dienste um  das  erwarb,  worin  wir  einen  besonderen 
Ausdruck  höherer  Bildung  erkennen,  so  wird  es  wie- 
derum jeden  Gebildeten  anziehen,  einen  Blick  in  die 
Architektonik  zu  werfen.  In  der  That  steht  die 
Baukunst  mit  vielen  Fachern  des  menschlichen  Wissens 
in  so  naher  Verbindung,  dass  Vitruv  fast  alle  Wissen- 
schaften seiner  Zeit  als  Hülfswissenschaften  der  Ar- 
chitektur aufzahlt.  Auch  giebt  es  vielleicht  keine 
Kunst,  die  so  sehr  jedermann  zur  Beurtheilung  ihrer 
Werke  gleichsam  herausfordert ,  da  sie  dieselben 
meistens  vor  aller  Augen  .,am  Wege "  aufführt. 
Ueberdies  ist  sie  unter  allen  Künsten  die  ethisch 
reinste.  Ein  Gedicht  kann  schlecht  sein  ethisch  und 
poetisch.  Ein  graphisch  ausgezeichnetes  Gemälde 
kann  in  ethischer  Beziehung  sehr  verwerflich  sein. 
In  einem  guten  Bau  befasst  das  architektonisch  Gute 
in  sich  die  Correctheit  und  davon  abhangige  Schön- 
heit und  mit  dieser  eine  ethische  Höhe,  deren  innerer 
Gehalt  eben  so  unbegrenzt  wie  ihre  Wirkung  un- 
messbar  ist. 

Indem  wir  nun  jene  Theilnahme  für  die  Bau- 
kunst und  die  Reinheit  derselben  bei  der  Mehrheit 
der  Gebildeten  voraussetzen,  wollen  wir  die  Aufmerk- 
samkeit derselben  zunächst  auf  vier  der  bekannteren 
Baustyle  lenken,   welche  sich  zugleich  als  die  vier 

1* 


4 


Cardinal-  oder  Haupt-Baustyle  zeigen  werden,  auf  den 
Aegyptischen,  den  Griechischen,  den  Run  d- 
bogen-  und  den  Spitzbogen -Styl. 

Unsere  Bildtafeln  geben  Proben  von  jedem  der- 
selben, die  den  meisten  Lesern  bekannt  sein  werden. 
Auch  haben  viele  von  dem  Eindruck,  den  jene  Ge- 
bäude machen,  gehört  oder  ihn  selbst  erfahren,  und 
oft  vielleicht  in  Kunstgeschichten  gelesen  ,  dass  die 
Absicht  j  diesen  Eindruck  hervorzubringen ,  die  Ur- 
sache und  der  Anfang  der  Erfindung  des  Styls  sei. 
Von  den  Aegyptischen  Tempelbauten  wird  uns  in 
einem  ausgezeichneten  Werk  gesagt ,  sie  seien  auf 
Ernst  und  Schweigen  berechnet,  die  schräg 
gerichteten  Aussenseiten  sollten  dazu  dienen,  um  die 
festeAbgeschlossenheit  des  Tempels  aus- 
zusprechen, —  oder  es  soll  der  Grund  für  die 
schräge  Richtung  der  Mauer  bei  diesen  Gebäuden 
augenscheinlich  in  der  Sorgfalt  für  die  Solidität  mit 
Rücksicht  auf  die  steigenden  Wasser  des 
Nils  liegen.  —  Endlich  heisst  es :  darin  liegt  die 
Meisterschaft  der  Urheber  jener  Bauten,  dass  sie  den 
richtigen  Ton ,  der  so  genau  mit  den  Umgebungen 
(den  weiten  Bergzügen  ,  dem  grossen  Strom  ,  dem 
ungetrübten  warmen  Lichte  der  südlichen  Sonne) 
harmonirle,  zu  finden  wussten.  Ja,  derselbe  Schrift- 
steller geht  so  weit  zu  behaupten,  dass  Zeichnungen 
dieser  Gebäude  auch  diejenigen,  die  die  Gegenden 
nicht  gesehen,  den  Charakter  jener  Natur  besser 
kennen  lehren,  als  landschaftliche  Zeichnungen. 


5 


Von  den  Griechischen  Tempeln,  namentlich  von 
dem  Dorischen  Baustyl  sagt  ein  Anderer:  die  Ein- 
fachheit dieses  Stammes  in  Sitte  und  Lebensweise, 
das  Gediegene  seiner  körperlichen  und  geistigen  Con- 
stitution drückt  sich  in  seiner  Architektur  aus.  Und 
einer  der  ausgezeichnetsten  Bearbeiter  der  Griechin 
sehen  Tektonik  giebt  sich  alle  Mühe,  um  dem  Do- 
rischen Stein  bau  den  Ruhm  der  Ursprünglichkeil 
zu  gewinnen  ,  und  die  Idee  einer  Nachbildung  der 
Holzconstruction  von  diesen  Tempeln  zurückzuweisen. 
—  Dagegen  soll  der  Ionische  Baustyl  mit  seinen 
leichteren  schlankeren  Säulen,  deren  Basen  und  ver- 
zierten Capitalen  aus  dem  leichteren  Character  dieses 
Stammes  hervorgegangen  sein ,  ganz  gesondert  von 
dem  alteren  Dorischen  Baustyl,  dessen  Säulen  manche 
gerne  aus  Aegypten  herleiten  möchten ,  obgleich  bei 
diesen  ausser  der  aufrechten  Stellung  alles  andere 
anders  ist. 

In  Rom  finden  wir  vorherrschend  den  Gewölb- 
bau mit  Kreis-  oder  Rundbögen.  Von  dieser 
Architektur  heisst  es  ,  als  hervorgegangen  aus  dem 
Character  des  Volks ,  sie  sei  stolz  ,  emporstrebend, 
machtig,  kühn,  den  Zeiten  trotzend.  (Ihre  Werke 
liegen  fast  alle  in  Ruinen  oder  sind  ganzlich  ver- 
schwunden.) 

Endlich  im  Spitzbogen  offenbare  sich  die 
christliche  Baukunst.  Die  zum  Himmel  hinauffüh- 
rende Religion  habe  die  zum  Himmel  aufstrebenden 
Säulen  und  Spitzbogen  geschaffen. 


6 


Wir  bedauern  nun  alle  diese  Salze,  sofern  sie 
den  Ursprung,  die  Genesis  der  Baustyle  angeben 
sollen  ,  bekämpfen  und  verneinen  zu  müssen  Auf 
die  Wahl  des  schon  vorhandenen  Styls  und  die 
vollendetere  Ausführung  des  Bau's  mögen  in  einzelnen 
Fallen  einige  jener  Ideen ,  und  namentlich  in  Be- 
ziehung auf  den  Spitzbogen  -  Styl ,  Einfluss  gehabt 
haben  \  auf  die  Erfindung  des  Styls ,  auf  dessen  ur- 
sprüngliche Anwendung  haben  sie  keinen  Einfluss  gehabt. 

Wir  werden  nun  die  genannten  vier  Baustyle 
einer  näheren  Betrachtung  unterziehen.  Indem  wir 
auf  die  weitläufige  Widerlegung  fremder  Meinungen 
verzichten ,  werden  wir  suchen  aus  den  Anfängen, 
aus  dem  ersten  Entstehen  der  Baustyle  ihr  Wesen 
und  ihre  Unterschiede  begreiflich  zu  machen.  Wir 
bauen  dabei  auf  den  alten  und  bekannten  Satz  dass 
der  Anfang  die  Hälfte  des  Ganzen. 

Wrer  ein  Gebäude,  ein  Staatsgebäude  oder  eine 
Wohnung  oder  einen  andern  Bau  aufführen  will,  der 
sucht  sich  erst  über  das  Ziel,  den  Zweck  des 
Ganzen  und  die  Beziehung  der  Theile  zu  diesem 
Ganzen  klar  zu  werden.  Er  macht  sich  ein  Pro- 
gramm für  seinen  Bau.  Dies  ist  der  erste  Anfang. 
Dieses  Programm  übergiebt  er  dem  Baumeister. 
Der  Baumeister  ist  der  zweite  Anfang ,  die  zweite 
Bedingung,  Urheberschaft  des  Bau's.  Der  Baumeister 
entwirft  nun  nach  diesem  Programm  einen  Plan  über 
die  Form  des  Gebäudes.  Zugleich  bestimmt  er  das 
Material,  aus  dem  das  Gebäude  in  der  angege- 


7 


benen  Form  ausgeführt  werden  kann  und  soll,  Die 
Form  ist  die  dritte,  das  Material  ist  die  vierte  Ur~ 
bedingung,  Ursache  des  Bau's,  ohne  welche  der  Bau 
nicht  zu  Stande  kommen  kann.  Zu  den  materiellen 
Bedingungen  gehört  nun  aber  bei  jedem  vernünftigen 
Bau  nicht  bloss  das  Baumaterial  ,  sondern  auch  die 
climatischen  und  alle  localen  Verhältnisse  ,  in  und 
unter  welchen  der  Bau  auszuführen  ist.  Wird  nun 
der  Bau  wirklich  ausgeführt,  so  kehrt  sich  gewisser- 
massen  die  Reihenfolge  dieser  vier  Anfänge  des  Baus 
um,  Zuerst  ist  der  gesammte  materielle  Anfang, 
Raum ,  Lage ,  Klima  und  Material ,  Holz  und  Steine 
u.  s.  w.  vorhanden  oder  herbeizuschaffen.  Das  Ma- 
terial muss  selbstverständlich  für  einen  Bau  empfäng- 
lich sein.  Aus  flüssigem  Wasser ,  aus  trockenem 
Sand  kann  man  kein  Haus  bauen.  Das  zweite  ist 
die  Form ,  der  Bauplan ,  wie  wir  es  wohl  nennen. 
Allein  aus  diesen  Beiden  wird  auch  noch  kein  Haus. 
Es  muss  der  Baumeister  als  die  causa  efficens ,  die 
bewegende  Ursache,  hinzukommen,  der  jenes  Material 
in  die  bestimmte  Form  bringt  und  zusammensetzl. 
und  zwar  muss  Material  und  Form  vom  Bau- 
meister so  zusammengesetzt  werden ,  dass  daraus 
das  ursprüngliche  Ziel  z.  B.  ein  zweckmässiges  Haus 
oder  ein  zweckentsprechendes  Staatsgebäude  hervor- 
gehe. 

Wir  fragen  nun ,  in  welcher  oder  in  welchen 
von  diesen  vier  nach  der  Lehre  des  Aristoteles 
aufgestellten  ursprünglichen  Bedingungen 'jedes  Bau's 


8 


liegt  dasjenige^  was  wir  den  Baustyl  nennen?  Offen- 
bar nicht  im  Zweck.  Es  giebt  z.  B.  christliche 
Kirchen  nicht  nur  im  Spitzbogen-Styl,  sondern  eben 
so  viele  und  ältere  als  jene  im  Rundbogen  -  Styh 
und  gegenwärtig  sehr  viele  namentlich  in  England  im 
Griechischen  Styl  und  in  allen  drei  Arten  des  letz- 
teren. Gleichwohl  kann  der  Zweck  auf  die  Wahl 
des  Styls  Einfluss  haben .  wie  wir  sehen  werden. 
Auch  der  Baumeister  kann  diesen  oder  jenen  Styl 
wählen  ,  allein  seine  Eigenschaft  als  Baumeister  ist 
durchaus  nicht  Bedingung  oder  Wesenheit  des  Styls. 
Es  kann  ein  Baumeister  ganz  gegen  seine  Ansichten 
und  im  Widerspruch  mit  seinen  Erfahrungen  ge- 
nölhigt  sein  ,  in  einem  vorgeschriebenen  Styl  zu 
bauen;  ein  anderer  hat  eine  besondere  Neigung, 
vielleicht  auch  Fähigkeit,  bald  in  diesem  bald  in 
jenem  Styl  zu  bauen ;  ein  dritter  mischt  eine  Menge 
verschiedener  Style  an  demselben  Gebäude  zusammen. 
Dabei  ist  nicht  ausgeschlossen ,  dass  ein  Baumeister 
in  einem  bestimmten  Styl  so  baut,  dass  man  den 
Meister  an  dem  Werk  erkennt.  Von  diesem  be- 
sonderen Styl  oder  richtiger  dieser  besonderen  „Ma- 
nier" innerhalb  eines  Styls  ist  hier  nicht  die  Rede. 
Dagegen  zeigt  sich  einem  jeden  gleich  ,  dass  die 
Verschiedenheit  der  Style  hauptsächlich  in  der  Ver- 
schiedenheit der  Form  liegt:  die  Verschiedenheit  der 
Form  aber  ist ,  wie  wir  sehen  werden ,  am  wesent- 
lichsten bedingt  durch  das  Material,  und  so  werden 
wir   sagen*,  der  Baustyl  beruht  auf  der  wesentlich 


9 


durch  das  Material  bedingten  Form  unter  dem  Ein- 
fluss  des  Zwecks  und  der  Individualität  des  Bau- 
meisters ,  und  5  fügen  wir  hinzu ,  unter  dem  Einfluss 
der  Nationalitat,  des  Zeitgeistes,  der  Mode  u.  s.  w. 


Einer  der  ältesten  Baustyle ,  zugleich  ein  sehr 
bestimmt  ausgeprägter,  ist  der  Aegyptische. 
Derselbe  zeichnet  sich  besonders  aus  durch  die 
schräge  Richtung  der  Mauern,  die  sich  über  einem 
nur  scheinbaren  ,  mit  kleinen  gleichsam  aus  dem 
Boden  wachsenden  Blumen  verzierten  Sockel  erhebt. 
Die  zum  Theil  sehr  hohen  Wände  dieser  Mauern 
sind  mit  Relief  -  Figuren  geschmückt,  deren 
Masse  nicht  über  die  Fläche  der  Mauer  hervorragt, 
und  welche  dadurch  zum  Relief  werden ,  dass  die 
Umrisse  in  leiser  Rundung  in  die  Fläche  der  Mauer 
eingesenkt  sind.  Die  Ecken  der  Mauern  sind 
von  unten  bis  oben  mit  einem  aus  einer  Anzahl  dün- 
ner Stäbe  gebildeten  und  mit  Bändern  umwundenen 
und  zusammen  gehaltenen  Rundstabe  verziert.  Die 
Dachung  ist  flach  und  ragt  in  einem  einlachen 
stark  vortretenden  Hohlkehlengesimse  über  die 
Mauer  hervor.  Licht  und  Luftöflnungen  sind  spär- 
lich und  klein.  Säulen  finden  sich  im  Innern  zahl- 
reich ,  aber  ausserhalb  der  Mauer  zur  Bildung  von 
offenen   Hallen   keine.    Wir   fragen   zunächst  nach 


10 


der  Entstehung  dieser  Bauart,  und  suchen  uns  über 
die  materiellen  Bedingungen  des  Baus  in  Aegypten 
m  orientiren. 

Aegypten  ist  im  Grunde  nur  ein  grosses  Fluss- 
bett zwischen  der  s.  g.  Libyschen  und  Arabischen 
Wüste.  Schon  Herodot  macht  die  richtige  Bemer- 
kung, das  Wesen  des  wechselnden  Wasserstandes 
des  Nils  bestehe  nicht  darin,  dass  der  Fluss  jährlich 
austrete,  und  das  Land  überschwemme,  sondern  um- 
gekehrt darin  ,  dass  die  Wassermenge  einen  Theil 
des  Jahres  sich  so  sehr  vermindere,  dass  der  Nil 
den  grössten  Theil  seines  Bettes  ( d.  h.  des  ägyp- 
tischen Landes )  verlasse  und  sich  in  sein  kleines  Bett, 
das  gewöhnliche  Nilbett,  zurückziehe.  Dasselbe  sagte 
das  Orakel  ,  als  es  befragt  antwortete :  soweit  der 
Nil  reiche,  soweit  erstrecke  sich  Aegypten.  Städte, 
Dörfer,  Häuser  wurden  und  werden  auf  natürlichen 
oder  künstlich  aufgeworfenen  Höhen  errichtet,  welche 
sich  wie  Inseln  in  dem  grossen  Nil  erheben  oder 
wie  Halbinseln  von  der  Abdachung  der  beiden  Wü- 
sten in  denselben  hineinerstrecken.  Am  grössten  ist 
der  Nil  gegen  die  Herbstgleiche.  Von  da  an  zieht 
er  sich  allmählich  in  sein  kleineres  Bett  zurück,  bis 
er  mit  dem  Sommersolstiz  hauptsächlich  in  Folge  des 
Schmelzens  des  Schnees  auf  den  hohen  Gebirgen  an 
seinen  Quellen  und  nördlich  von  diesen,  und  in  Folge 
der  tropischen  Regen  wieder  zu  wachsen  anfängt. 
Die  Erdtheile  ,  welche  er  mit  sich  führt ,  lösen  sich 
in  Sand  und  Thon  auf.     Der  schwerere  Sand  sinkt 


11 


alsbald  zu  Boden,  und  wird  am  Grunde  des  kleineren 
tieferen  Bettes  durch  die  stärkere  Strömung  fortge- 
schleift. Der  leichtere  Thon  wird  durch  die  über- 
schwemmenden Gewässer  über  den  bisher  trockenen 
Boden  getragen,  und  bildet  zumal  bei  dem  geringen 
Fall  des  Flussbett's  einen  lehmigen  fruchtbaren  Nie- 
derschlag. Daher  ist  der  Boden  des  ganzen  ägyp- 
tischen Landes  ein  fetter  thonreicher  Lehmboden. 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  Pflanzenwelt  in  diesem 
Lande  hauptsächlich  der  Wasser- Vegetation  angehört. 
Rohr  und  Dattelpalmen  sind  daher  durchaus  vor- 
herrschend; und  an  grösseren  Baumarten,  deren  Holz 
zu  Bauten  verwendbar  wäre,  giebt  es  im  Grunde  nur 
eine,  die  Palme.  Wiewol  dieselbe  eine  bedeutende 
Höhe  erreicht  und  ihre  Stämme  eben  so  dick  werden, 
als  die  anderer  Bäume ,  welche  zum  Bau  dienen,  so 
sind  sie  doch  ihrer  Natur  gemäss  sehr  biegsam,  nicht 
nur  in  der  Gestalt  von  Bolen  ,  sondern  auch  in  der 
Form,  in  der  sie  vielfältig  zur  graden  Ueberdachung 
der  Wohnungen  verwandt  werden  ,  indem  man  sie 
der  Länge  nach  in  zwei  Hälften  spaltet. 

Da  es  in  Aegypten,  namentlich  in  Mittelaegypten 
nicht  regnet,  noch  weniger  schneit,  so  bedurfte 
man  keiner  schrägen  Dächer  und  konnte  also  mit 
den  Balken  der  Palmen  ziemlich  grosse  Räume  über- 
dachen, wenn  man  sie  nur  durch  Stützen,  Mauern 
oder  Säulen,  gegen  zu  starkes  Biegen  oder  Brechen 
schützen  konnte.  Nur  im  nördlichen  Delta,  bei  den 
Pyramiden,  an  denen  die  vom  Mittelmeer  gen  Süden 


12 


ziehenden  Wolken  gebrochen  werden«  und  vielleicht 
hin  und  wieder  aus  ähnlichen  Ursachen  reguet  es 
zuweilen.  Bei  der  allgemeinen  Regenlosigkeit  des 
Landes  selbst  würde  die  Hitze  der  auch  durch 
Wolken  verhältnissmässig  selten  verhüllten  Sonne  un- 
erträglich sein ,  wenn  nicht  in  der  Nacht  ein  starker 
Thau  und  Nebel  sich  aus  dem  Nil  erhöbe  und  am 
Morgen  niedergeschlagen  würde,  während  zu  anderer 
Zeit  die  reinere  Luft  die  Hitze  weniger  drückend 
macht.  Schatten  gewährte  zur  Zeit  der  primitiven 
Zustände  die  Palme  mit  ihrer  schirmähnlichen  Krone, 
aus  deren  Blättern  ohne  Zweifel  früh  ein  tragbares 
Schutzdach  nachgebildet  wurde.  Viel  mehr  aber 
mahnte  der  Wind  zu  dem  von  den  Palmen  nicht 
gewährten  Schutz  durch  Mauern  und  Wände1 
mochte  er  nun  als  Nord  oder  Süd  kalt  daherfahrend 
mit  dem  Nebel  des  Nils  sich  verbinden  ,  —  denn 
auch  der  Südwind  ist  zuweilen  schneidend  kalt  — 
oder  mochte  der  heisse  Süd  und  West  mit  dem 
leinen  Staub  der  Wüste  über  das  ägyptische  Land 
hinwehen  und  denselben  durch  die  kleinsten  OefT- 
nungen  hindurchführen  oder  mochte  gar  der  Südost 
durch  Sand  und  Staub  den  Tag  in  Nacht  verwan- 
deln. *) 

Man  brauchte  also  Wände  mit  geringen  Luft- 


)  Eine  treffliche  Schrift  über  die  klimatischen  Verhältnisse 
Aegyptens  ist  „John  Antes  Bemerkungen  über  Egypten. *  Wei- 
mar, 1801. 


13 


und  Lichtöffnungen,  die  oft  so  angelegt  wurden,  dass 
durch  dieselben  leicht  ein  kühlender  Zugwind  erzeugt 
werden  konnte,  während  bei  der  hellen  durchsichtigen 
Atmosphäre  eine  kleine  Oeffnung  in  der  Mauer  zur 
Erhellung  des  inneren  Raums  viel  leichter  genügte, 
als  in  unsern  nördlichen  Gegenden. 

Wie  baute  man  nun  in  frühester  Zeit,  in  den 
Anfängen  der  Cultur ,  ehe  man  Eisen  kannte ,  und 
es  zu  verarbeiten  verstand,  ehe  man  die  Felsen  unter 
dem  Libyschen  und  Arabischen  Sand  in  Steinbrüche 
verwandeln  konnte,  als  man  überhaupt  noch  nur  da- 
rauf bedacht  war  ,  sich  in  diesem  Klima  den  durch 
dasselbe  bedingten  Schutz  zu  verschaffen  ?  Ohne 
Zweifel  so  oder  ähnlich,  wie  es  noch  heute  die  ärm- 
sten und  ungebildetsten  der  Bewohner  des  Landes 
thun.  Dass  die  natürlichen  Höhlen  Aegyptens  jemals 
eine  auch  nur  sehr  dünne  Bevölkerung  des  Landes 
hätten  bergen  können,  ist  eine  Fabel. 

Noch  heute  bestehen  die  kleineren  Wohnungen 
besonders  auf  dem  Lande  aus  vier  Wänden  mit 
einem  platten  Dach.  Die  Wände  sind  aus  Lehm 
oder  aus  sonnengebrannten  Lehmplinthen  erbaut,  d.  h. 
aus  dem  Boden  selbst ,  worauf  die  Häuser  stehen. 
Weil  aber  der  Lehm  unter  der  trocknenden  Sonne 
Aegyptens  besonders  an  der  Aussenseite  der  Mauer 
sich  leicht  ein  weriig  löst,  und  beim  Bau  dafür  ge- 
sorgt werden  muss,  dass  jedes  Theilchen  der  com- 
pakten  Masse  der  Mauer  eine  Unterlage  habe  und 
dadurch  getragen  und  gehalten  werde,   so  wird  die 


14 


Mauer  schräg  gebildet,  dosirt ,  wie  unsere  Marsch- 
deiche und  Festungswälle.  Die  Schrägung  brauchte 
aber  bei  weitem  nicht  so  stark  zu  sein  als  in  unserem 
Klima,  weil  ihnen  nur  die  Hitze,  niemals  aber  der 
Regen,  noch  bei  ihrer  erhöhten  Lage  die  Nilüber- 
schwemmung drohte.  Bedacht  werden  diese  schrägen 
Lehmmauern  mit  gespaltenen,  dicht  an  einander  ge- 
legten Palmstämmen  ,  die  bei  einem  gewöhnlichen 
einstöckigen  Hause  nichts  zu  tragen  haben.  Zur 
grösseren  Sicherung  gegen  die  Biegung  unter  ihrer 
eigenen  Last  Hess  man  denselben  eine  solche  Länge, 
dass  sie  über  die  Mauer  mit  den  Enden  stark  her- 
vorragten. War  die  Thür  nach  Norden  gerichtet, 
so  schloss  sie  die  Sonne  aus  und  Hess  durch  den 
drei  Viertheile  des  Jahres  und  besonders  im  Sommer 
vom  Meer  herwehenden  Nordwind  Kühlung  in  die 
Behausung ,  welche  durch  eine  Luftöffnung  an  der 
entgegengesetzten  Seite  und  dadurch  bewirkten  Luft- 
zug leicht  vermehr  wurde.  Damit  war  das  Haus 
fertig.  Zur  grösseren  Sicherung  der  Ecken  des 
Hauses  mochte  man  einen  aus  dem  hohen  ägyptischen 
Rohr  oder  aus  Weiden  gebildeten  Stab  mit  der  Lehm- 
mauer beim  Bau  verbinden;  oder  es  mochte  die 
ganze  Mauer  aus  einem  Reisergeflecht  bestehen,  de- 
ren Enden  unter  dem  Lehmanwurf  hervorragten. 

Vergleichen  wir  nun  damit  die  Mauern  der 
Pylonen  und  Tempel,  (Taf.  I.)  so  scheint  es  ganz 
klar,  dass  die  mächtigen  Steinbauten  ihre  Form  von 
jenen    ursprünglichen  Lehmbauten    entlehnt  haben. 


15 

Eines  Sockels  bedurften  die  Lehmbauten  nicht,  weil 
der  Boden,  worauf  sie  standen,  an  sich  gleichartig 
aber  fester  war,  als  die  Mauer.  Darum  haben  auch 
die  Steinbauten  keinen  Sockel.  Aus  dem  Boden 
selbst  wuchsen  aber  Graser  und  Blumen  auf  und 
bildeten  so  eine  natürliche  Verzierung  des  unteren 
Theils  der  Mauer.  Man  ahmte  dies  in  Stein  nach 
und  zog,  wie  man's  auch  im  Lehm  thun  mochte,  eine 
Linie  oberhalb  der  Vegetation.  So  bekamen  jene 
enormen  Steinbauten  eine  Art  Basis ,  die  einem 
Sockel  nur  ähnelt,  die  aber  in  der  Profilirung  sich 
gar  nicht  von  der  gesammten  Mauerflache  absondert, 
und  deren  leichte  Verzierung  durchaus  unharmonisch 
und  unzweckmässig  genannt  werden  müsste,  wenn 
sie  nicht  aus  der  angegebenen  Erklärung  ihres  Ur- 
sprungs sich  als  correct  erwiese. 

Auch  an  den  Ecken  der  Steinbauten  ahmte 
man  die  aus  zusammengebundenen  Reisern  oder  Rohr 
gebildeten  Schutzstäbe  nach,  und  zwar  bis  ins  Ein-> 
zelne,  so  dass  man  sowohl  die  einzelnen  Reiser,  als 
die  Bänder  und  die  Art  der  aus  einer  fortlaufenden 
Schnur  bestehenden  Umwickelung  nachbildete.  Den 
über  die  Mauer  vorragenden  Deckstämmen  mochte 
man  oft  zur  Verzierung  die  Krone  oder  vielmehr  bei 
gespaltenen  Stämmen  die  Hälfte  der  Krone  lassen, 
so  dass  der  mit  der  flachen  Seite  nach  unten  lie- 
gende halbe  Stamm  die  Blätter  seiner  halben  Krone 
in  die  Höhe  richtete,  und  so  ein  mit  aufstrebenden 
Palmblättern  verziertes  Gesimse  bildete.    Daher  ver- 


16 

zierte  man  auch  beim  Steinbau  das  stark  vortretende 
nach  vorne  überneigende  Gesimse  mit  Palmblattern. 

Die  grossen  Lehmflächen  der  Mauern  verlockten 
gleichsam  von  selbst  zum  Hineinritzen  von  mancherlei 
Figuren.  Die  anfangs  einfachen  Conturen  rundete 
man  später  ab,  so  dass  die  Figur  die  Form  eines 
Hachen  Reliefs  bekam.  Weiter  aber  ging  man  nicht, 
wiewohl  man  neben  diesen  Reliefs  Statuen  in  ganz- 
und  halbrunder  Gestalt  aufstellte.  Man  beharrte 
vielmehr  bei  derjenigen  Sculptur  auf  Steinflächen, 
welche  bei  den  Prototypen  auf  Lehmflächen  möglich 
war.  Auch  die  Steinsäulen  im  Innern  der  Tempel 
geben  sich  durch  die  unverkennbarsten  Eigentüm- 
lichkeiten als  Nachbildungen  solcher  Säulen  zu  er- 
kennen ,  die  ursprünglich  aus  Holz,  aus  mehreren 
durch  starke  Bänder  zusammengehaltenen  Reisern 
und  Stäben  bestanden,  die  man  nicht  in  den  Boden 
eingrub ,  sondern  auf  runde  Scheiben  stellte ,  um 
das  Eindringen  und  Verschieben  der  einzelnen  Stäbe 
zu  verhindern.  Wir  glauben  hiemit  genug  gesagt 
zu  haben,  um  den  Ursprung  der  ägyptischen  Ar- 
chitektur aus  der  Natur  des  Landes  und  des  in  dem- 
selben sich  bietenden  Materials  zu  erklären,  zugleich 
das  Wesen  des  ägyptischen  Baustyls  anzudeuten. 

Dass  man  aber  jene  einfachsten  Lehmbauten 
überhaupt  in  Stein  ausführte  ,  dass  man  diese 
Steinbauten  in  Frömmigkeit  und  Gottesfurcht  weit 
über  das  Bedürfniss  hinaus  zu  jener  staunenswerthen 
Grossartigkeit  und   Erhabenheit  ausbildete ,  welche 


17 


wir  in  den  Ruinen  der  Aegyptischen  Tempel  be- 
wundern,  bedarf  für  diejenigen,  die  einen  Cölner 
Dom  und  tausende  von  christlichen  Kirchen  mit  ihren 
hohen  Gewölben  und  himmelan  strebenden  Thürmen 
begreifen,  keiner  Erklärung.  —  Wir  verfolgen  den 
betretenen  Weg  bei  der  Griechischen  Architektur. 


Die  Werke  der  Griechischen  Baukunst 
finden  wir  hauptsächlich  in  Griechenland  selbst ,  in 
Kleinasien  und  Grossgriechenland.  Die  s.  g.  Korin- 
thische Säule  dürfen  wir  als  eine  spätere  betrachten. 
Dagegen  scheinen  die  Dorische  und  die  Ionische 
Architektur  fast  gleichzeitig  aufzutreten.  Die  älteste 
Dorische  Architektur  in  Griechenland  finden  wir 
hauptsächlich  in  nicht  dorischen  Staaten.  Nament- 
lich war  es  Athen ,  welches  schon  zur  Zeit  des 
Pisistratos  und  wohl  früher  die  grösseren  Tempel 
daheim  und  später  auch  auswärts  in  diesem  Styl 
baute.  Der  Name  der  Dorischen  Bauart  ist  wahr- 
scheinlich viel  jünger,  als  jene  Bauwerke,  und  ver- 
muthlich  anfangs  nur  im  Gegensatz  des  Ionischen 
Styls  gebraucht,  der  allerdings  wohl  ursprünglich, 
jedenfalls  am  ausgedehntesten,  in  dem  kleinasiatischen 
Ionien  angewandt  wurde.  Der  Griechische  Tempel- 
bau,  sowohl  der  Dorische  als  Ionische,  ist 
eine  Nachbildung  der  Holzarchitektur.  Wir 
glauben  nicht,  dass  es  jemals  gelingen  wird,  der  An- 

2 


18 


sieht  von  der  Ursprünglichkeit  der  Steinarchitektur 
der  griechischen  Tempel  Geltung  zu  verschaffen.  Ist 
doch  in  der  That  nicht  ein  einziges  Glied  der  do- 
rischen Construction,  welches  sich  nicht  als  eine  ein- 
fache Nachbildung  des  Holzbau's  erwiese ;  und  wie 
dieser  Ursprung  die  Ehre  des  dorischen  Steinbau's 
beschranke,  lässt  sich  schwer  einsehen. 

Griechenland  unterscheidet  sich  von  dem  klein- 
asiatischen lonien  wesentlich  durch  die  Eigenthüm- 
lichkeit  seines  Bodens.  lonien  ist  durchflössen  von 
mehreren  grossen  Strömen,  welche  den  Boden  ihrer 
flachen  lang  gestreckten  Thalebenen  bewässern  und 
einen  Theil  des  Jahres  die  nächste  Umgegend  der 
Städte  in  feuchtem  Zustande  erhalten.  Das  eigent- 
liche Hellas  ist  durchweg  ein  vielfältig  durchbrochenes 
Gebirgsland.  Die  Thäler  der  einzelnen  Staaten  sind 
klein  ,  die  Flüsse  dieser  Thäler  sind  sehr  unbe- 
deutend ,  und  überschreiten  ihre  Ufer  meistens  nur 
am  unteren  Ende.  Die  Städte  mit  ihren  Akropolen 
liegen  auf  der  Höhe.  Unter  dem  Erdreich  stösst 
man  sehr  bald  auf  den  harten  Fels,  wie  dies  ja  na- 
mentlich von  Attika  bekannt  ist.  Ja  es  giebt  keine 
Reste  eines  alten  Tempels,  weder  in  Attika,  noch  auf 
Aegina,  noch  in  Korinth,  noch  in  Arkadien,  dessen 
Fundamente  nicht  in  geringer  Tiefe  den  festen  Fels- 
boden unter  sich  hätten,  und  nicht  fern  wären  von 
jeder  Berührung  stehender  oder  fliessender  Gewässer. 

Von  Aegypten  unterscheiden  sich  alle  Grie- 
chischen Länder  namentlich  dadurch,  dass  es  in  den 


19 


letzteren  regnet.  Und  zwar  regnet  es  so  stark, 
dass  oft  in  Einer  Stunde  mehr  Wasser  vom  Himmel 
herunterströmt,  als  bei  uns  wahrend  ganzer  Tage. 
So  im  Winter.  Im  Sommer  dagegen  ist  die  Hitze 
wohl  der  ägyptischen  gleich ,  da  der  grosse  Fluss 
fehlt  mit  seinen  kühlenden  Wasserdampfen.  In 
Griechenland  kann  man  daher  ohne  Dach  zum 
Schutz  gegen  Beides,  Nässe  und  Hitze,  nicht 
leben.  Wie  in  Aegypten  der  Bau  des  Hauses  von 
der  Lehmwand  ausgegangen,  so  in  Griechenland 
vom  Dach.  Und  dem  Bedürfniss  entsprach  hier 
wieder  das  vorhandene  Material.  Für  eine  Wand, 
eine  Mauer,  fehlte  es  in  den  meisten  Thälern  Grie- 
chenlands an  einem  unmittelbar  anwendbaren  Bau- 
material. Aus  der  dünnen  Erdschicht  z.  B.  Attikas 
konnte  man  keine  Mauer  aufführen.  Wenige  Ge- 
genden waren  wie  Böotien  durch  seinen  Lehmboden 
begünstigt.  Aus  unregelmässigen  Feld-  und  Bruch- 
steinen konnte  man  ohne  Mörtel  nur  eine  sehr  un- 
sichere und  zum  Dachtragen  ungenügende  Wand 
bilden.  Dagegen  bot  die  reiche  Baum-  und  Laub- 
vegetation die  mannichfachsten  Mittel  zur  Bildung 
eines  Dachs,  und  noch  jüngst,  oder  jüngst  wieder, 
da  im  Befreiungskrieg  die  Mehrzahl  der  Häuser 
zerstört  war,  gab  es  nicht  wenige,  die  unter  solchen 
oft  selbst  ohne  „Axt  und  Säge"  gebauten  Dächern 
lebten.  Weil  es  eben  so  im  Anfang  der  Cultur 
geschah  —  und  diese  Anfänge  dauern  oft  neben 
der  Entwicklung  lange   fort  —  hat  sich   in  der 

2  * 


20 


Griechischen  Sprache ,  besonders  bei  den  Dichtern, 
der  Ausdruck  Dach*)  für  Wohnung  fortwährend 
erhalten  und  ist  üblicher  geblieben,  als  das  Wort 
Haus  (oIkoc),  welches  besonders  mit  Beziehung  auf 
die  Bewohner,  d  ie  Farn il i  e,  gebraucht  wurde.  Auch 
das  Wort  domus,  bezieht  sich  auf  die  Ver- 

bindung des  Holzes  zu  einem  Dach  und  hat  sich 
in  dieser  Bedeutung  der  Ueberdachung,  Ueberwöl- 
bung  bis  heute  in  dem  Wort  Dom  erhalten.  Nach- 
dem man  auf  Baumstämme  ein.  Dach  gelegt,  mochte 
man  auch  innerhalb  dieser  Dachträger  aus  Geflecht 
oder  aus  zusammengefügten  Fellen  oder  später  aus 
Gewebe  ein  Parapetasma,  eine  Wand  aufspannen 
gegen  die  Einwirkung  der  Witterung  von  der  Seite. 

Dass  nun  dieses  der  Anfang  des  Griechischen 
Hauses  war,  und  dass  dieser  Anfang  sich  fortwäh- 
rend in  der  Einrichtung  des  Hauses  behauptete,  lehrt 
uns  das  ganze  Alterthum  sowohl  durch  schriftliche 
Ueberlieferungen  als  durch  die  erhaltenen  Häuser- 
Ruinen  ,  namentlich  in  Pompeji.  Die  bedeckte 
Säulenhalle  war  der  gewöhnliche  Aufenthalt  der 
Hausbewohner,  und  auch  später  noch  waren  die  ge- 
schützteren Gemächer  zum  Schlafen  oft  durch  einen 
Vorhang  von  der  Säulenhalle  getrennt. 

Wir  meinen  aber  mit  diesem  Anfang  des  Hauses 
zugleich   den  Anfang  des  Tempels  in  Griechenland 


*)  Ziiyri,  criyog.    Tragiker.  Plato 


Politik.  3.  p.  415,  e. 

i  xctvctl  s  vv  «  C. 


21 


beschrieben  zu  haben.  Und  auch  hier  enthalt  der 
Anfang  die  Hälfte  des  Ganzen.  Weil  man  den 
Baumstamm  in  den  trocknen  Boden  der  Höhen,  auf 
denen  man  die  Tempel  baute,  hineingrub,  darum 
hat  die  s.  g.  dorische  Säule  keine  Basis.  Weil  man 
einen  Baumstamm  mit  seiner  natürlichen  unebenen 
Rinde  schöner  fand ,  als  einen  glatten  geschälten 
Stamm ,  darum  canelürte  man  die  Säulen.  Gehen 
doch  die  Risse  in  der  Rinde  des  Baums  eben  so 
von  unten  nach  oben,  so  dass  sich  aus  den  Streifen 
der  Rinde  von  selbst  nach  innen  gehöhlte  Canäle 
bilden.  ( Vergl.  Tafel  IL  ).  Weil  die  Holzsäule 
unten  durch  die  sie  umgebende  Erde  zusammenge- 
halten wurde ,  oben  aber  vor  dem  Zerspalten  ge- 
schützt werden  musste ,  darum  machte  man  nicht 
unten,  wohl  aber  oben  einen  Einschnitt,  um  ein 
festes  Band  herumzuschlingen.  Weil  man  gerne  das 
obere  Ende  des  Stammes  mit  den  Ansätzen  der 
Zweige  zum  obern  Ende  der  Säule  machte,  welches 
den  breiteren  Abakus,  die  Platte,  trug,  auf  welcher 
der  Architrav  liegen  sollte,  und  weil  dieses  gleichfalls 
gegen  den  schweren  Druck  geschützt  werden  sollte, 
darum  umgab  man  dasselbe  mit  einer  ursprünglich 
aus  einem  Fell  oder  aus  früh  gebrauchtem  Filz 
(t/Aos)  bestehenden  Einfassung,  einer  Kapsel  (Echi- 
nos),  die  man  mit  mehreren  Ringen  (Annuli)  zusam- 
menschloss.  Und  weil  alles  dieses  beim  Holzbau 
sich  practisch  erwiesen,  machte  man  es  bei  der 
Steinsäule  ebenso,  nachahmend  zwar  das  Motiv,  aber 


22 


nur  typisch,  wie  es  sich  bei  der  Steinsäule  geziemte, 
die  eben  keine  Holzsäule  war.  Auf  den  Abakus 
legte  man  den  Architrav  ,  auf  den  Architrav  die 
Querbalken  mit  den ,  den  Querschnitt  schützenden, 
nach  den  drei  erhöhten  Streifen  benannten  Trigly- 
phen- Platten ,  zwischen  denen  die  anfangs  offenen, 
dann  geschlossenen  Zwischenöffnungen,  Metopen  (pe- 
TOTryj  —  nicht  [xirooirov,  wie  es  hin  und  wieder  in 
Kunstgeschichten  heisst);  —  darüber  das  Gesimse 
mit  den  Sparrenköpfen  und  der  Dachrinne ;  dann 
das  Dach  selbst,  welches  im  Giebel  anfangs  dem 
Luftzug  offen  war,  daher  Aetoma  oder  Aetos,  bei- 
des von  KT] fit,  wehen.  (Schon  im  Alterthum  bezog 
man  den  Namen  theils  irrig,  theils  vielleicht  in  ab- 
sichtlichem Doppelsinn  auf  den  Adler,  der  im  Grie- 
chischen von  demselben  Zeitwort  ärj/xi  seinen  Namen 
hat,  wie  im  Deutschen  Weihe  von  wehen.  Ur- 
sprünglich aber  bedeutete  Aetoma,  was  es  war,  eine 
Wind-  und  Luft  -  Oeffnung.)  Nichts  lag  näher  als 
die  Metopen  und  das  Giebelfeld,  Aetoma,  zu  schlies- 
sen  ,  sie  mit  Figuren  in  Farben  oder  in  Relief  zu 
schmücken.  Geschah  die  Schliessung  des  Giebelfeldes 
mit  Fellen  oder  einem  andern  stark  gespannten  Stoff, 
so  ergab  sich  die  Benennung  Tympanum  von  selbst, 
entlehnt  von  der  Ueberspannung  der  Trommel  trotz 
der  sehr  verschiedenen  Gestalt.  Die  Schrägung  des 
Dachs  brauchte  nur  auf  schnelle  Entfernung  des 
Regens  (nicht  des  Schnees)  berechnet  zu  sein.  Die 
stärkere  Neigung  der  Dachrinnen  vermied  man  durch 


23 


Vermehrung  der  Löwenmäuler  d.  h.  der  Mündungen 
der  Dachflächen.    (Taf.  II.  und  HI.) 

Wer  nun  nirgends ,  als  in  seiner  Wohnung 
oder  im  Gasthaus  ein  Glas  Wasser  getrunken  hat, 
ohne  sich  im  Entferntesten  darum  zu  kümmern,  auf 
welchem  oft  ebenso  schwierigem  als  bemerkenswer- 
them  Wege  dasselbe  von  der  Quelle  bis  an  des 
Trinkers  Lippe  geleitet  ist,  wer  niemals  in  einem 
südlichen  Klima,  in  Griechenland,  Kleinasien  vergeb- 
lich nach  einem  Trunk  Wasser  geschmachtet  hat, 
der  wird  freilich  kaum  begreifen,  dass  alle  Griechi- 
schen Tempel  neben,  meistens  über  einer  Quelle, 
einem  Brunnen,  einer  Cisterne  erbaut  waren.  Ich 
sage  alle,  weil  es  sich  von  einer  grossen  Zahl  der 
bedeutendsten  nachweisen  lässt ,  von  Tempeln  in 
Athen,  in  Delphi,  bei  Mantinna,  in  Messene,  in 
Aipytis,  in  Korkyra,  in  Theben,  (auf  dem  Kapitol  in 
Rom,  in  Mylassa,  in  Sais,  in  Bubastis,  in  Kom  Om- 
bos).  Es  war  das  heilige  Wasser,  welches  vor  allem 
dem  Menschen  zum  Heil  war ,  über  welchem  die 
dankbare  Gemeinde  dem  Gott  sein  Heiligthum  er- 
richtete. So  geschieht  es  noch  heute  im  Orient  an 
unzähligen  Orten.  Giebt  es  doch  kaum  eine  Mo- 
schee ,  vor  deren  Eingang  sich  nicht  ein  Brunnen 
oder  eine  Fontäne  befindet,  und  ist  nicht  in  den 
Katholischen  Kirchen  der  Brunnen  oder  die  Quelle 
noch  heute  im  Weihbecken  vorhanden?  Von  die- 
sem fliessenden  und  flüssigen  Wasser  hat  der  Grie- 
chische Tempel   selber  seinen  Namen   Naos  (von 


24 


vdoo  fliessen  ,  npijvjj  vocei  t  ddvotoQ,  N«/s  etc.  keines- 
weges  von  v&vq  Schiff  oder  von  vxi»,  Wörter  die 
freilich  auch  auf  vdca  zurückzuführen  sind).  Auch 
heute  benennt  niemand  die  Kirche  als  solche  mit 
dem  architektonischen  Ausdruck  „Schiff." 

Den  oben  beschriebenen  Tempel  nannte  man 
den  Dorischen,  wie  bemerkt,  nicht  weil  er  vor- 
zugsweise den  Doriern  eigentümlich  gewesen ,  was 
nicht  der  Fall  war ,  sondern  weil  man  ihn  durch 
diese  Benennung  von  den  in  Ionien  üblichen  Tem- 
pelbauten unterschied.  In  Ionien,  in  jenen  Ebenen 
mit  dem  durch  grosse  Flüsse  bewässerten  Boden 
forderte  der  Bau,  der  im  Wesentlichen  derselbe  war, 
einige  kleine  Veränderungen.  Man  stellte  den  Baum- 
stamm, der  zuerst  als  Säule  diente,  statt  ihn  in  den 
lockeren  Boden  einzugraben,  auf  eine  grössere  Basis. 
Ja,  auch  daran  hatte  man  nicht  genug  gethan.  Man 
suchte  auch  den  Boden  selbst  durch  Füllung  mit 
Kohlen  trocken  zu  machen ,  wie  bei  dem  Tempel 
der  Artemis  zu  Ephesos.  Weil  nun  die  Holzsäule 
frei  auf  einer  Basis  stand,  musste  sie  auch  unten 
gegen  das  Zerspalten  geschützt  werden.  Man  legte 
um  die  Säule  ein  dickes  Band  von  Flechtwerk, 
welches  in  seiner  Decoration  wie  in  seinem  Namen 
((nrstpot,  Strick)  das  Zeugniss  seines  Ursprungs  be- 
hielt. Durch  die  Stellung  auf  eine  Basis  wurde 
derselbe  Baumstamm  gewissermaassen  von  selbst 
eine  längere  Säule.  Diese  erhielt  nun  auch  in 
der  Vermehrung  und  der  Verengung  der  Canelüren 


25 


und  in  den  zwischenliegenden  Flächen  den  entspre- 
chenden Ausdruck,  wahrscheinlich  in  Uebereinstim- 
mung  mit  der  hier  vorzugsweise  angewandten  Baum- 
gattung. Denn  wer  sich  nicht  mit  der  Bemerkung 
begnügt  j  dass  die  Baumrinde  gewöhnlich  rauh  ist, 
sondern  genauer  zusieht,  wird  hald  entdecken,  dass 
sich  auch  die  Bäume  nach  Dorischer  und  Ionischer 
Canelürung  unterscheiden  lassen.  An  die  Stelle  des 
Bandes  im  Einschnitt  der  Dorischen  Säule  trat  zu- 
erst ein  Reif  in  Gestalt  einer  s.  g,  Perlenschnur, 
den  heiligen  Opferbinden  nachgebildet,  und  später 
auch  noch  ein  breiteres  Band,  geschmückt  mit  Blu- 
men von  Wasserpflanzen,  das  Anthemion.  Der 
Echinos  blieb,  allein  er  wurde  fast  verdeckt  durch 
das  „Polster,"  welches  man  zwischen  den  Echinos 
und  Plinthos  oder  Abakus  einschob,  und  welches  an 
den  Seiten  zusammengerollt  und  durch  „Gür- 
tel" zusammengebunden  nach  Vorne  die  Voluten 
bildete.    (Taf.  III.  und  IV.) 

Sowohl  in  den  Namen  einzelner  Theile  als  in 
der  Form  ,  trägt  dieses  Polster  den  Character  eines 
biegsamen  Stoffs,  dessen  Enden  zum  Schutz  der 
Ränder  zusammengerollt  waren,  wodurch  sich  in  der 
Form  das  Nützliche  mit  dem  Schöneren  verband. 
Mag  dies  Polster  ursprünglich  aus  Thierhäuten  oder 
aus  einem  Geflecht  bestanden  haben ,  jedenfalls  war 
es  bestimmt  und  geeignet,  die  Last  des  Architrav's 
und  des  Dachs  so  auf  die  ganze  Säule  zu  vertheilen, 
dass  ein  Spalten  und  Auseinanderdrängen  der  Säule 


26 


selbst  möglichst  verhindert  wurde.  Es  ersetzte  also 
gewissermaassen  sowohl  den  die  Last  des  Architrav's 
auf  die  ganze  Säule  vertheilenden  Abakus ,  als  den 
diese  Last  aufnehmenden  Echinos  mit  den  Ringen. 
Es  war  daher  sehr  wohl  begründet,  dass  der  Echi- 
nos sich  fast  zu  einem  blossen  Ornament  verklei- 
nerte. Dasselbe  war  der  Fall  mit  dem  Plinthos  oder 
Abakus,  der  in  seiner  geringeren  Ausdehnung  das 
Hervortreten  des  Polsters  in  den  Voluten  begün- 
stigte. Im  Ganzen  lag  es  in  der  Natur  der  Sache, 
dass  jede  neue  Zuthat  zu  der  einfacheren  Dach- 
stütze als  ein  Wesentliches  hervortrat  und  dass  die- 
jenigen Glieder ,  deren  Dienst  im  Bau  durch  das 
hinzugelügte  Glied  vertreten  oder  unterstützt  werden 
sollten,  durch  dieses  neue  zurückgedrängt  wurden. 

Ganz  in  Uebereinstimmung  mit  der  freieren 
Stellung  der  Säulen,  ihrer  grösseren  Höhe,  ihrer 
weiteren  Zwischenräume  musste  nun  auch  das  Dach 
leichter  gebaut  werden.  Statt  des  schweren  Archi- 
travbalkens  legte  man  zwei  oder  drei  leichtere  Bolen 
übereinander,  so  dass  zur  Ableitung  des  Regens  die 
obere  über  die  untere  um  weniges  vortrat.  Um 
die  Decke  zu  erhöhen,  stellte  man  auf  dieselben  eine 
Bole  in  die  Kante  (welche  man  später  mit  gemalten 
oder  Relief  -  Figuren  verzierte:  Zophoros)  und 
legte  auf  diese  Bole  keine  Querbalken ,  sondern, 
(wie  es  noch  oft  in  südlichen,  an  grossen  Bauhölzern 
ärmeren  Gegenden  geschieht)  leichtere  in  die  Kante 
gestellte  Latten,  die  man  näher  zusammenrückte  und 


2? 


deren  vorspringende  Enden  die  Zähne,  Denticuli,  des 
Ionischen  Ban's  sind,  —  so  dass  also  in  der  That 
die  Denticuli  den  von  den  Triglyphen  verdeckten 
Balkentöpfen  des  Dorischen  Bau's  entsprechen;  und 
wahrend  die  überflüssig  gewordenen  Querbalken 
gleichsam  in  den  Latten  und  die  Triplyphen  in  den 
Zähnen  in  die  Höhe  rückten ,  verwandelten  sich  die 
geschlossenen  Metopen  mit  ihren  Verzierungen  in 
ein  fortlaufendes  Band  mit  Bildwerken.  Vitruv 
stellt  den  Bau  so  dar,  als  wenn  die  Denticuli  zu- 
gleich die  Sparrenköpfe  (Mutuli)  nolhwendig  verdrän- 
gen. Er  hat  wohl  Recht.  Doch  würde  es  hier  zu 
weit  führen,  näher  auf  das  wie  weit  einzugehen. 
Jedenfalls  liess  der  Ionische  Bau  die  Sparrenköpfe 
oder  ihr  Analogon  nicht  mehr  hervortreten. 

Die  Korinthische  Bauart  schloss  sich  eng 
an  die  Ionische  an.  Die  Basis  und  der  Schaft  der 
Säule  blieben  dieselben.  Allein  am  Capital  sehen 
wir  eine  wesentliche  Veränderung  eintreten,  welche 
sich  jedoch  ohne  die  Vetruvische  Erzählung  von  dem 
mit  Blättern  überwachsenen  Korb,  auf  die  einfachste 
Weise  aus  dem  Ionischen  Kapital ,  w  ie  wir  es  an 
dem  Erechtheum  in  Athen  kennen  lernen,  erklärt, 
zumal  wenn  wir  bedenken,  dass  der  Erfinder  des 
Korinthischen  Kapitäls.  der  wegen  der  Sauberkeit 
seiner  Arbeit  berühmte  Bildhauer  Kallimachos  ,  in 
jenem  Tempel  die  ewig  brennende  goldene  Lampe 
der  Athene  Polias  gefertigt  hatte.  Er  lebte ,  wie 
sich  auch  aus  anderem  ergiebt,  zur  Zeit  jenes  Bau's 


28 


und  war  vielleicht  selbst  der  Künstler,  der  jenes 
zierliche  Anthemion  der  Ionischen  Säulen  erfunden 
oder  ausgeführt  hatte. 

Jetzt  betrachte  man  nur  dieses  Anthemion  ge- 
nau, besonders  dasjenige  der  Säulen  der  nördlichen 
Stoa  oder  das  der  Cella-Mauer.  (Taf.  IV.  4.)  Man 
wird  leicht  die  Entdeckung  machen,  dass  die  Blätter 
unterhalb  der  Lotos-  und  Hyacinthenblüthe  eben 
nichts  anderes  sind,  als  Akanthosblätter.  Es 
bedurfte  nun  in  der  That  nur  einiger  Einsicht  in  die 
Entwicklung  des  Ionischen  Kapitäls  aus  dem  Dori- 
schen, um  einen  Schritt  weiter  gehend  aus  dem 
Ionischen  Kapital  das  Korinthische  gleichsam  hervor- 
wachsen zu  lassen.  Und  selbst  dieser  Schritt  wurde 
nicht  mit  einem  Mal  gethan.  Wie  das  Anthemion 
erst  von  dem  Gesimse  der  Dorischen  und  Ionischen 
Dachrinnen  auf  das  Hypotrachelion  der  Ionischen 
Säule  übertragen  war,  so  wie  auf  die  ganze  Cella- 
Wand  und  ihre  Pilaster,  so  war  schon  an  den  Pro- 
pyläen des  Tempels  der  Demeter  in  Eleusis  und  an 
der  Einen  Säule  im  Apollotempel  bei  Phigalia  das 
Akanthoslaub  des  Anthemions  hoch  hinaufgeschossen, 
und  hatte  seinen  früheren  bescheidenen  Raum  über- 
wuchernd die  Stengel  sammt  den  Blumen  hoch 
hinaufgetrieben,  so  dass  die  Stengel  bei  der  Phiga- 
lischen  Säule  schon  völlig  an  die  Stelle  der  Voluten 
traten.  Bei  dem  Tempel  des  Apollon  Didymaios 
in  Milet  (dessen  Baumeister  unverkennbar  mit  Athen 
in  Verbindung  gestanden)  ist  das  Korinthische  Ka- 


29 


pitäl  beinahe  schon  fertig.  Kallimachos  mag  auch 
darauf  Einfluss  gehabt  haben.  Jedenfalls  war  ihm 
nach  den  Fortschritten  die  er  selber  gemacht  hatte, 
oder  die  ihm  bekannt  sein  mussten ,  nun  nichts 
weiter  zu  thun  übrig,  als  die  genaue  Form  des 
vollendeten  Korinthischen  Kapitals  zu  bestimmen. 
(Taf.  IV.  3.)  Man  vergleiche  mit  dieser  Ansicht 
über  die  Entwicklung  der  Kapitale  auch  die  man- 
nichfachen  Formen  der  Stirnziegel  und  Grabstelen 
(unter  andern  bei  Inwood  „über  das  Erechtheion.") 
Eine  unmittelbare  Folge  der  leichten  Blatterverzie- 
rung des  Kapitals  war  nun  der  gewundene  Girlan- 
den-Schmuck am  Gebalk  und  die  gleichfalls  vegeta- 
bilisch verzierten  Consolen  oberhalb  der  Denticuli 
unter  der  Dachrinne  ,  in  welchen  die  im  Ionischen 
Bau  verdeckten  Sparrenköpfe  und  die  Dorischen  mit 
den  Mutulis  gleichsam  wieder  hervortraten ,  jedoch 
hier  als  sichtbare  Träger  des  starker  ausgeladenen 
Gesimses.  Auch  die  Form  dieser  Träger  war  in 
den  Trägern  des  oberen  Thürbalken  in  der  nörd- 
lichen Stoa  des  Erechtheums  vorgebildet. 

Die  gradlinigen  Verzierungen  des  Dorischen 
Bau's  entsprechen  ebenso  sehr  einer  schwereren  Last, 
als  die  gewundenen  des  Ionischen  und  die  noch 
entschiedener  der  Pflanzenwelt  entlehnten  des  Korin- 
thischen mit  einer  leichteren  Last  harmoniren.  Es 
war  daher  eine  weise  Anordnung  des  Baumeisters 
des  Colosseums,  dass  er  den  Halbsäulen  unten  an  der 
äusseren  Wand  die  Dorische,  in  der  Mitte  die  Ionische 


30 


i>nd  oben  die  Korinthische  Form  gab.  Die  Athener 
verfuhren  in  der  besten  Zeit  nach  derselben  rich- 
tigen Einsicht,  indem  sie  den  Parthenon,  den  The- 
seustempel,  die  Propyläen  im  Dorischen  Styl  bauten; 
dagegen  den  kleineren  in  jeder  Beziehung  mehr 
zierlichen  als  machtigen  Bau  des  Erechtheums  und 
andere  kleinere  Tempel  im  Ionischen  Styl  aufführten, 
endlich  noch  kleinere  leichtere  Denkmale  entweder 
gleichfalls  im  Ionischen ,  oder ,  wie  das  choragische 
Denkmal  des  Lysikrates  in  der  Tripodenstrasse ,  im 
Korinthischen  Styl  errichteten.  Im  Dorischen  Tempel 
von  Phigalia  waren  die  inneren  Säulen,  welche  nur 
den  bekannten  Fries  zu  tragen  hatten,  Ionische. 
Auch  der  Parthenon  und  die  Propyläen  hatten  im 
Inneren  einige  nur  die  Decke  tragende  Ionische 
Säulen. 

In  lonien  selbst  baute  man  aus  dem  angege- 
benen Grunde  auch  die  grössten  Tempel  im  Ioni- 
schen Styl.  Als  im  Lauf  der  Zeit  nach  einem  sich 
wiederholenden  Entwicklungsgesetz  das  Einfache, 
Correcte  und  Grosse  dem  Zierlichen,  Gemischten  und 
Kleinlichen  weichen  musste,  baute  man  in  Griechen- 
land und  Rom  die  grössten  Tempel  im  Korinthi- 
schen Styl;  so  unter  andern  den  Tempel  des  Olym- 
pischen Zeus  in  Athen,  dessen  Korinthische  Säulen 
einen  Durchmesser  von  sieben  Fuss  haben  und  auf 
dem  Blätterkelch  ihres  Kapitals  die  Last  eines  Daches 
trugen,  welches  circa  350  Fuss  lang  und  170  Fuss 
breit  war.    Allein  wie  weit  man  auch  in  der  An- 


31 


wendung  des  leichteren  Styls  für  die  schwersten 
Massen  gehen  mochte,  so  blieb  man  doch  in  der 
Ausführung  innerhalb  des  gewählten  Styls  selbst.  Es 
ist  z.  B.  niemandem  eingefallen  auf  einen  Dorischen 
Säulenschaft  ein  Ionisches  oder  Korinthisches  Ka- 
pital zu  setzen,  oder  auf  eine  Ionische  Säule  ein 
Dachgebälk  mit  Triglyphen.  Noch  weniger  erlaubte 
man  sich  in  einem  Griechischen  Tempel  die  runden 
Bögen  eines  Gewölbes  anzubringen ,  obwohl  schon 
Demokrit  im  5.  Jahrhundert  vor  Chr.  die  Theorie 
des  Gewölbbau's,  wahrscheinlich  lange  nach  dessen 
practischer  Anwendung,  gelehrt  hatte.  Der  aus  dem 
Holzbau  hervorgegangene  Steinbau  des  Griechischen 
Tempels  duldete  nun  einmal  nicht  die  Störung  seiner 
graden  Linien  durch  Bögen.  Selbst  die  Kreisform 
der  Säule,  deren  Wesen  die  grade  Richtung  von 
unten  nach  oben  war,  wurde  durch  die  Kanelürung 
aufgehoben,  und  sonst  erscheinen  gewundene  Linien 
nur  in  den  Ornamenten  mehr  der  Sculptur  als  der 
Architektur  angehörig,  und  auch  so,  stylisirt,  typisch, 
gleichsam  versteinert.  Es  war  selbst  die  Wellen- 
oder  Wasserlinie  des  Mäander  im  Dorischen  Bau 
gradlinig  und  rechtwinkelig  geworden,  und  nur  oben 
an  der  ausgeschweiften  Sima  der  Dachrinne,  wo  die 
Vorstellung  des  Tragens  aufhörte ,  hatte  derselbe 
sich  früh  wieder  aus  dem  gradlinigen  (vergl.  Pä- 
stum)  in  das  wellenförmige  Ornament  verwandelt. 
Aus  dieser  fliessenden  Wellenlinie  an  der  Dachrinne 
erblühen  dann  W^asserblumen  („Ak-anthos")  mit  den 


32 


Akanthosbiättern,  und  Hyacinthen-  und  Lotos-BIü* 
then.  Bald  schlössen  sich  an  die  Windungen  des 
fliessenden  Mäander  die  gewundenen  Stengel  „Helikes" 
der  Akanthos,  und  nun  konnte  das  fertige  Anthe- 
mion  weiter  verwandt  werden. 

.Dass  aber  der  ursprüngliche  Holzbau  der  Tem- 
pel Griechenlands  überhaupt  in  Stein,  hauptsächlich 
Marmor,  ausführbar  war,  beruhte  wiederum  auf  dem 
Material,  welches  sich  in  so  reicher  Fülle  oft  in  der 
nächsten  Nähe  fand.  Wo  ein  solches  Material  fehlte, 
oder  nur  aus  weiter  Ferne  herbeigeschafft  werden 
konnte,  da  musste  man  auf  andere  Mittel  bedacht 
sein,  um  grössere  Räume  zu  überdecken.  Die  Ar- 
chitravsteine  des  Parthenon  haben  eine  Länge  von 
14  Fuss,  der  Deckstein  der  Thür  ist  noch  länger. 
Nicht  jedes  Gestein  liess  sich  in  so  grosse  Werk- 
stücke aus  dem  Fels  schneiden ,  die  in  freier  Lage 
nicht  nur  unter  ihrer  eigenen  Last  nicht  zerbrachen, 
sondern  überdies  die  ganze  darauf  ruhende  Last  zu 
tragen  vermochten.  Und  damit  kehren  wir  zurück 
zu  dem  Satz  von  dem  wir  ausgegangen :  wie  in 
Aegypten  so  war  auch  in  Griechenland  und  Klein- 
asien die  Form  in  der  Architektur  wesentlich  be- 
dingt und  bestimmt  durch  das  Material  und  durch 
die  materiellen  Verhältnisse,  unter  denen  der  Bau 
auszuführen  war. 


33 


Wir  wenden  uns  jetzt  zum  Rundbogen- 
Styl  und  damit  nach  Rom.  Das  Gebiet  von  La- 
tium  ist  arm  an  solchem  Gestein  ,  aus  dem  siel« 
grosse  Blöcke  zur  graden  Ueberdeckung  weiter  Räume 
gewinnen  Hesse.  Die  Ebene  von  Rom  diesseits  und 
jenseits  der  Tieber  ist  durchaus  vulcanischer  Natur. 
Die  Tufdecke  dieser  Gegend,  der  Peperin,  der  Tra- 
vertin  sind  zu  locker ,  um  ahnliche  Steinbalken  zu 
liefern  ,  wie  die  Marmorbrüche  des  Brilessos  und 
Hymettos  in  Attika,  der  Inseln  und  des  Peloponnes. 
Als  Architravbalken  oder  als  Thürdeckung  eines 
grösseren  Tempels  würden  sie  bald  unter  ihrer  eige- 
nen Last ,  geschweige  denn  unter  der  des  Daches 
brechen.  Der  s.  g.  Toscanische  Tempelbau  bediente 
sich  daher  des  Holzes  zur  Ueberspannung  der  Stein- 
saulen ,  und  konnte  demgemäss  sich  viel  grössere 
Säulenweiten  erlauben,  als  der  Griechische  Marmor- 
bau. Mit  dem  Wachsen  der  Stadt  und  ihrer  Macht 
mussle  sich  aber  bald  das  Bedürfniss  einer  Bauart 
aufdrangen,  welche  bei  grösserer  Starke  und  Dauer- 
haftigkeit die  Anwendung  kleinerer  Werkstücke  zur 
Ueberdeckung  weiter  Räume  gestaltete.  Die  Stadt 
lag  unmittelbar  an  einem  grossen  Fluss,  der  zuweilen 
sehr  reissend  ist;  die  Wege  hatten  nach  Süden  und 
Osten  die  Tiber  oder  den  Anio  zu  überschreiten, 
ausserdem  in  allen  Richtungen  eine  Menge  kleinerer 

3 


34 


Bäche,  die  im  Winter  mit  wilder  Fluth  aus  dem 
Gebirge  herabstürzen.  Innerhalb  der  Stadt  mussten 
unterirdische  grosse  Wassergänge  angelegt  werden, 
deren  schwierige  Ausbesserung  einen  festen  auf  mög- 
lichst lange  Dauer  berechneten  Bau  forderte  ,  und 
deren  Decke  ein  hohes  Erdreich  mit  Tempeln  und 
Häusern  zu  tragen  hatte.  So  war  Rom  schon  sehr 
früh  daraufgeführt,  den  wie  es  scheint  vor  der  Zeit 
der  angeblichen  Gründung  Roms  bekannten  Bogen- 
bau  anzuwenden.  Wenn  auch  die  erste  Brücke 
über  die  Tiber,  der  Pons  Sablicius,  aus  Holz  ge- 
baut war,  und  die  Errichtung  der  ersten  steinernen 
Tiber-Brücke  erst  in  das  Jahr  der  Stadt  573 
fällt,  so  wurden  doch  bekanntlich  die  Cloaca  Ma- 
xima  und  der  Carcer  Mamertinus  schon  in  die  Kö- 
nigszeit gesetzt,  und  beide  sind  von  einer  so  aus- 
gezeichneten Construction,  dass  sie  nicht  nur  bis  auf 
den  heutigen  Tag  in  ihrer  ursprünglichen  Keil- 
schnitt -  Fugung  vollkommen  erhalten  sind,  sondern 
auch  den  Beweis  liefern,  dass  schon  längst  vor  dem 
Bau  derselben  der  Rundbogen  mit  Keilschnitt  in  die 
Architektur  eingeführt  war.  Indessen  war  der  Bo- 
genbau  mit  grossen  Werkstücken  natürlichen  Steins 
und  ohne  Mörtel  ,  also  mit  sorgfältiger  Behauung 
der  einzelnen  Steine,  sehr  kostspielig  und  konnte  nur 
bei  Staatsbauten  und  auch  bei  diesen  nur  in  Maassen 
ausgeführt  werden,  die  in  Vergleich  mit  den  späte- 
ren Bauten  Roms  als  gering  zu  bezeichnen  sind. 
Der  Boden  Laliums , *  lieferte  er  auch  nur  ein 


35 


lockeres  unfestes  Gestein,  war  um  so  reicher  an 
Material  zu  Werkstücken  für  Quadermauern  und 
Gewölbe ,  zu  trefflichen  Backsteinen  und  zu  einem 
ausgezeichneten  Bindemittel.  Und  auf  dieser  Eigen- 
thümlichkeit,  verbunden  mit  der  längst  geübten  Kunst 
des  Bogenbau's,  beruhte  die  Möglichkeit  jener  enor- 
men Bauten,  welche  die  Republik  und  das  Kaiser- 
reich namentlich  in  Wasserleitungen  und  Bädern 
aufrührte.  Ohne  Backstein ,  Mörtel  und  Bogenbau 
hätte  man  nicht  ganze  Bäche  hoch  in  der  Luft  viele 
Meilen  weit  über  die  Ebene  leiten,  nicht  jene  wei- 
ten Räume  der  Thermen  mit  festem  Gewölbe  über- 
dachen ,  kein  Amphitheater  (Coliseum)  für  87,000 
Zuschauer  bauen  können.  Das  Gewölbe  in  dem 
grossen  Saal  der  Bäder  des  Caracalla  hatte  eine  so 
weite  Spannung,  dass  nach  dem  Zeugniss  des  Aelius 
Spartianus  die  gelehrten  Mechaniker  dasselbe  trotz 
seines  Daseins  für  eine  Unmöglichkeit  erklärten.  Es 
genügt  ein  Blick  auf  die  Ruinen  eines  dieser  ins 
Unglaubliche  ausgedehnten  Bauten,  um  sich  von  der 
Wichtigkeit  des  Materials  für  die  erweiterte  Anwen- 
dung der  Bogenconstruction  zu  überzeugen. 

Die  Frage,  wo  der  Rundbogen  erfunden  sei, 
ist  dabei  sehr  unwesentlich.  Der  Verfasser  dieser 
Schrift  hat  in  seiner  „Beschreibung  der  Ebene  von 
Troia"  an  dem  Grabe  des  Ajax,  welches  in  die  vor-» 
homerischen  Zeiten  hinaufreicht,  einen  Rundbogen 
aus  grossen  Bruchsteinplalten,  die  durch  Mörtel  ver- 
bunden sind  ,   nachgewiesen.    Auch  scheint  die  Be- 


36 


Schreibung,  welche  Pausanias  von  dem  Schatzhaus 
des  Minyas  giebt ,  sich  auf  das  Princip  des  Bogens 
zu  beziehen  ,  dessen  Theorie  ,  wie  bemerkt  ,  schon 
Demokrit  aufgestellt  hatte.  Wahrscheinlich  war  der 
grosse  Wasserbehälter  unter  dem  Olympion  in  Athen, 
in  welchen  sich  die  jährlich  wiederkehrende  Deuka- 
lionische  Flulh  aus  dem  Tempelhof  verlief,  schon 
vor  dem  Umbau  des  Tempels  durch  Cossutius  ge- 
wölbt. Auch  die  ursprünglich  trefflich  gewölbten 
Wasserleitungen  unter  den  Strassen  Athens  (vergl. 
Hellenika  1.  S.  65.)  sind  wohl  einer  vor-römischen 
Zeit  zuzueignen. 

Es  war  aber  Rom  vorbehalten,  den  Rundbogen 
als  Raustvl  in  die  s.  g.  bürgerliche  Architektur  ein- 
zuführen Anfangs  mag  begreitlicherweise  der  Ro- 
genbau oft  mit  der  gradlinigen  Architektur  des  Grie- 
chischen und  Toskanisch-Römischen  Tempels  vermischt 
sein.  Während  im  hinern  eines  solchen  Tempels, 
der  seine  äussere  Form  behielt,  gewölbte  Nischen, 
vielleicht  auch  eine  gewölbte  Decke  des  ganzen 
Tempels  angebracht  wurde,  gab  man  auf  der  andern 
Seite  den  ganz  im  Rundbogenstyl  aufgeführten  Ge- 
bäuden ein  gradliniges  Portal  mit  Architrav  und 
Aetoma,  und  überdeckte  Thür-  und  Fensteröffnungen 
im  rechten  Winkel ,  ohne  ahnden  zu  lassen  .  dass 
der  Eintretende  im  Innern  sich  unter  einem  Gewölbe 
befinden  werde.  Indessen  machte  sich  bald  auch 
hier  das  Richtige  geltend.  Das  Innere  erzeuge 
gewissermaassen  selbst  seineu  Ausdruck  im  Aeussern. 


37 


Thür-  und  Fensteröffnungen  wurden  gleichfalls  im 
Bogen  überdeckt  ,  und  fand  man  erst  die  grade 
Linie  des  Hypäthral -Aufsatzes  mit  den  Linien  des 
übrigen  Baues  im  Widerspruch,  so  musste  man  bald 
auf  die  Idee  geführt  werden,  welche  auch  hier  das 
Richtige  zeigte.  Man  errichtete,  wenn  man  sich 
nicht  mit  einer  unbedeckten  Kreisöffnung  im  Dach 
begnügte,  statt  des  gradlinigen  Hypäthral  -  Aufsatzes 
eine  überkuppelte  runde  s.  g.  Laterne  mit  Lichtöff- 
nungen an  den  Seiten  über  dem  Tonnengewölbe  des 
inneren  Raums.  Das  Pantheon  in  Rom  und  die 
Peterskirche  gehören  zu  den  bekanntesten  und  schön- 
sten Beispielen  des  Gewölbbau's. 

Unsere  Bildtafeln  liefern  Nr.  V.  eine  Probe 
aus  den  Garten  des  Sallust ,  welche  zugleich  zeigt, 
wie  man  die  Mauer  selbst  durch  eingelegte  Bögen 
zu  verstärken  suchte.  Der  vordere  Theil  dieses 
Bau's  erscheint  als  eine  Art  Kuppel,  welche  jedoch 
weder  durch  ein  Kugelgewöibe  noch  durch  Kreuz- 
bögen mit  Zwischenfeldern  gebildet  ist  ,  sondern  in 
welchem  die  sphärischen  Dreiecke  gleichsam  ihre 
eigenen  Träger  sind.  Der  Verband  gleicht  mehr 
dem  durch  gegenseitiges  Stützen  als  dem  durch 
gleichzeitiges  Lasten  und  Tragen  hervorgebrachten. 
Das  Tonnengewölbe  selbst  ruht  aber  in  seiner 
ganzen  Länge  auf  zweien,  dasselbe  in  jedem  Punkt 
unterstützenden  Mauern.  Von  einer  Vertheilung  der 
Last  auf  bestimmte  Punkte  und  dadurch  zu  bewir- 
kender Entlastung   anderer,   die   somit   als  Träger 


38 


überflüssig  würden  ,  sieht  man  in  diesem  Bau  kaum 
eine  Andeutung. 

In  Athen  war  unter  den  Säulenhallen  ,  welche 
zu  Versammlungen  dienten,  eine  bekannt  unter  dem 
Namen  der  Stoa  Basileios.  Sie  verdankte  diesen 
Namen  dem  Archon  ßasileus  oder  Archon  König, 
welcher  als  Erbe  der  geistlichen  Geschäfte  der  Kö- 
nige von  Attika  bei  Einsetzung  der  neun  jährlichen 
Archonten  diesen  Titel  behalten  hatte.  Derselbe  hatte 
nicht  nur  die  Räume  für  seine  Amtsgeschäfte,  welche 
etwa  denen  der  höchsten  geistlichen  Behörde  in 
unsern  Staaten  verglichen  werden  können  ,  in  jener 
Stoa,  sondern  als  beständiger  Vorsitzender  des  Are o- 
pags  versammelte  er  auch  diesen,  so  oft  derselbe 
als  Rath  zusammentrat,  ebendaselbst,  während  er 
ihn  in  seiner  Eigenschaft  als  Gerichtshof  in  Blut- 
sachen auf  den  offenen  unbedeckten  Gerichtsplatz 
auf  dem  Ares- Hügel  selber,  von  dem  er  seinen  Na- 
men Areopag  entlehnte,  berief. 

Da  der  Areopagitische  Rath  jedes  Jahr  durch 
die  abgehenden  Archonten  um  neun  lebenslängliche 
Mitglieder  vermehrt  wurde ,  so  wird  zuweilen  die 
Gesammtzahl  der  Areopagiten  nicht  klein  gewesen 
sein,  und  selbst  wenn  die  Sitzungen  nicht  öffentlich 
waren,  bedurfte  er  eines  ziemlich  grossen  Silzungs- 
saales. Es  ist  daher  nicht  unwahrscheinlich  und  be- 
stätigt, sich  durch  spätere  Nachbildungen ,  dass  die 
Königliche  Halle  am  innern  Ende  die  verschiedenen 
Geschäftsräume  ,   dagegen  in  der  Mitte  den  grossen 


Versammlungssaal  enthielt  und  dass  dieser  Saal  ober- 
halb der  unteren  Säulen  noch  eine  zweite  Säulen- 
stellung hatte,  welche  ein  erhöhtes  Dach  trug,  und 
Licht  und  frische  Luft  durch  die  Zwischenräume  der 
oberen  Säulen  in  die  Halle  einliess.  (Vergl.  Zester- 
mann:  die  antiken  und  christlichen  Basiliken.  Leipzig 
1847.)  Man  würde  sich  diese  Erhöhung  ähnlich 
dem  Mittelschiff  unserer  Kirchen  oder  einer  s.  g. 
Laterne  vorzustellen  haben ,  nur  dass  bei  der  Stoa 
dieser  Aufsalz  in  Dach  und  Wänden  gradlinig  und 
mit  Ausnahme  der  Dachschräge  rechtwinkelig  sein 
musste  ,  sofern  er  in  reinen  Verhältnissen  sich  der 
im  Griechischen  Styl  gebauten  Halle  anschloss. 

Die  Kömer  entlehnten  ,  wie  so  vieles  andere, 
z.  B.  die  Siegesthore  oder  Triumphbögen ,  auch  die 
Idee  der  Stoa  Basileios,  von  den  Athenern.  (Vergl. 
Bunsen  :  die  christlichen  Basiliken  Roms.)  Selbst 
den  Namen  übertrugen  sie  von  Griechenland.  Weil 
aber  die  Römische  Sprache  das  Wort  Basilius  nur 
als  Eigennamen  kannte,  dagegen  für  den  Begriff  des 
Königlichen  und  Prachtvollen  die  Form  „Basilicus" 
aufgenommen  halte  ,  so  nannte  man  eine  nach  dem 
Muster  der  Stoa  Basileios  gebaute  Halle  in  Rom 
Basilica.  Man  führte  indessen  in  die  Architektur 
dieser  Gebäude,  die,  wie  in  Athen,  sowol  zum  schat- 
tigen Aufenthalt  Müssiger  oder  mit  einander  in  Ge- 
schäften Verkehrender,  als  zu  berathenden  und  rich- 
terlichen Verhandlungen  und  zur  Veröffentlichung  des 
Richterspruchs  dienten,  eine  dem  Römischen  Baustyl 


I 


40 


entsprechende  Veränderung  ein.  An  sich  steht  eine 
Säule  ,  welcher  Ordnung  sie  angehöre  j  mit  keiner 
Art  der  Ueberdeckung  der  Säulenzwischenräume  in 
Widerspruch.  Vielmehr  kann  letztere ,  wie  durch 
Holz-  oder  durch  Steinbalken  gradlinig,  so  auch 
durch  Rundbogen  oder  selbst  durch  Spitzbogen  ver- 
mittelt werden.  In  Rom  also  überdeckte  man  die 
Säulen  an  beiden  Langseiten,  welche  die  Halle,  wie 
wir  sagen  ,  in  drei  Schiffe  abtheilten,  mittelst  Rund- 
bögen ,  welche  das  Dach  der  Seitenschiffe  und  zu- 
gleich die  kleineren  Säulen  trugen  ,  auf  welchen 
letzteren  wieder  die  aus  Holz  gefügte  Ueberdaehung 
des  Mittelschiffs  ruhte.  Diese  vertrat  in  ihrer  schräg 
aufsteigenden  Giebelform  zugleich  die  sonst  übliche 
horizontale  Decke.  (Taf.  VI.) 

Sowie  bei  diesen  Gebäuden  die  Bogen-Ueber- 
deckung  der  Säulenweiten  eingeführt  war,  lagen  drei 
weitere  Veränderungen  sehr  nahe:  erstens,  dass 
man  in  Uebereinstimmung  mit  diesen  Bögen  das 
innere  bisher  gradlinigte  Ende  der  Halle  durch  eine 
gewölbte  Nische,  die  s.  g.  Absis  schloss :  —  zwei- 
tens, dass  man  der  Stirnseite  des  ganzen  Bau's 
eine  solche  Fassung  der  Thür  und  des  Portals  gab. 
welche  mit  der  inneren  Bogenstellung,  der  Absis  und 
der  Abtheilung  in  drei  Schiffe  harmonirte.  Man  er- 
richtete also ,  wo  der  Raum  es  gestattete ,  vor  dem 
Eingang  ein  Chalkidikum,  eine  mit  Säulen  und  Rund- 
bögen versehene  Querhalle,  aus  der  eine  oder  drei 
oder  mehrere  rund  überdeckte  Thüren  in  die  Basi- 


41 


lika  führten.  Die  dritte  Veränderung  würde  in 
der  Ueberwölbung  des  Mittelschiffs  mit  einem  Tonnen- 
gewölbe bestehen ,  welches  bald  mit  bald  ohne  Be- 
seitigung der  oberen  Säulchen  unmittelbar  auf  der 
Wand  ruhte,  die  von  den  Arkaden-Bögen  der  Schiffe 
getragen  wurde. 

Als  nun ,  unter  Constantin  und  seinen  Nachfolgern 
immer  mehr  grosse  bedeckte  Räume  für  den  christ- 
lichen Gottesdienst  nothwendig  wurden  ,  lag  nichts 
näher ,  als  sich  der  vorhandenen  Basiliken ,  welche 
ohnedies  schon  zu  Versammlungen  gebraucht  wurden, 
zu  bedienen.  Die  heidnischen  Tempel  dienten  noch 
der  Religion ,  der  sie  gebaut  waren ,  und  konnten 
wohl  erst  nach  völliger  Besiegung  des  Polytheismus 
durch  das  Christenthum  in  christliche  Kirchen  umge- 
wandelt werden.  Bei  der  frühen  Benutzung  der  Ba- 
siliken zu  christlichen  Versammlungen  konnte  um  so 
weniger  ein  religiöses  Bedenken  sein,  als  die  christ- 
liche Religion  hier  nicht  einen  heidnischen  Gott  ver- 
drängte ,  sondern  an  die  Stelle  des  Prätors  oder 
eines  andern  weltlichen  Richters  den  Richter  über  die 
Lebendigen  und  die  Todten  selber  treten  liess.  Hier 
war  das  Volk  gewohnt  Reden  zu  hören,  über  Ge- 
schehenes und  auch  über  Künftiges  :  und  wie  es 
scheint,  störte  die  neue  Verwendung  nicht  einmal 
den  bisher  üblichen  Handelsverkehr  derer  .  d  e  ihre 
Waaren  feil  boten  ,  noch  weniger  den  Verkehr  der 
Geschäftsleute,  die  sich  hier  trafen  oder  der  Müssigen, 
die  hier  Schatten  und  Kühlung  suchten.    Hat  sich 


42 


doch  die  Sitte  ,  zu  gewissen  Zeiten  in  den  Kirchen 
Waaren  feil  zu  bieten,  selbst  bei  uns  bis  in  die 
jüngste  Vergangenheit  erhalten  und  sind  doch  in 
Italien  die  christlichen  Basiliken  für  den  Frommen 
den  ganzen  Tag  geöffnet,  wahrend  man  die  Kirchen 
bei  uns  vieler  Orten  an  den  Wochentagen  allen 
verschliesst,  und  am  Sonntage  denen  öffnet,  die  einen 
Platz  bezahlen  können,  es  sei  denn,  wer  es  nicht 
kann,  fühle  sich  so  erwärmt  und  gehoben,  dass  er 
anderthalb  Stunden  auf  den  kalten  Fliesen  stehend, 
vergesse,  dass  Ansehen  der  Person,  welches  nicht 
gilt  vor  Gott ,  wohl  gilt  vor  Kirchenbehörden.  Ist 
doch  hie  und  dort  das  Eintrittsgeld  zu  den  täglichen 
Vergnügungen  des  Tivoli  für  eine  ganze  Familie 
geringer ,  als  ein  einzelner  Sitz  für  die  Sonntags- 
Andacht  in  der  Kirche.  Wenn  z.  B.  in  einer  Kirche 
für  eine  Gemeinde  von  12 —  15,000  Erwachsenen 
nur  für  1000  Zuhörer  Raum  ist,  in  dieser  Kirche 
alle  Sitzplätze,  mit  Ausnahme  einiger  Bänke  in  den 
Gängen,  verkauft  oder  vermiethet  sind,  und  wenn 
unbesetzt  doch  verschlossen  bleiben,  wie  darf  man 
da  über  geringen  Besuch  der  Kirche  klagen?  Wer 
Einfluss  hat,  dem  Uebel  abzuhelfen  und  ihn  nicht 
anwendet,  der  wenigstens  begiebt  sich  des  Rechts  zu 
solcher  Klage.  Oeffnet  die  Gotteshäuser  alle  Tage, 
und  Sonntags  wahrend  der  Predigt  die  Plätze  allen, 
die  hören  wollen.  — 

So  wurden  die  alten  Basiliken  in  und  ausserhalb 
Roms  christliche  Kirchen.     Von  der  Volksversamm- 


43 

lung  nahm  die  christliche  Versammlung  den  Namen 
Ekklesia  an,  und  wieder  nach  dem  Vorgange  des 
allen  Athens  nannten  sie  die  Hauptversammlung,  die 
erste  in  der  Woche,  die  Kyria,  oder  Kyriake  und 
darnach  hiess  nun  und  heisst  zunächst  das  Gebäude 
und  dann  die  Gemeinde  der  Christen  selbst,  die 
sichtbare  und  die  unsichtbare,  bei  den  Romanischen 
Völkern  nach  dem  Griechischen  Wort  Ekklesia " 
Chiesa,  E*ilise  u.  s.  w. ,  bei  den  Germanischen  Völ- 
kern nach  dem  Griechischen  Wort  „Kyriake"  Kirche, 
Church  iL  s.  w.  Die  vorhandenen  Basiliken  reichten 
natürlich  bald  nicht  mehr  aus.  Man  baute  nach  dem 
Muster  der  alten  neue  christliche  Basiliken,  an  denen 
Rom  besonders  reich  und  deren  Grundform  im  All- 
gemeinen zugleich  die  Grundform  für  die  Kirchen 
des  katholischen  und  protestantischen  Europa's  ge- 
blieben ist. 

Betrachten  wir  nun  die  eigentlich  christlichen 
Basiliken  nach  den  Formen  5  in  welchen  sie  in  der 
ol'ficiellen  Kirchensprache  und  in  der  Architektur 
diesen  Namen  führen,  so  lassen  sich  folgende  Merk- 
male als  wesentlich  angeben.  Eine  Basilika  ist  ein 
oblonges  Gebäude  ,  dessen  Haupteingang  an  dem 
einen  schmalen  Ende  ist,  welchem  gegenüber  an  dem 
andern  schmalen  Ende  sich  eine  grosse  Nische,  Tri- 
büne oder  Absis  befindet;  der  innere  Raum  ist  der 
Länge  nach  durch  eine  doppelte  Säulenreihe  in  drei 
Schiffe  getheilt,  von  denen  die  beiden  Seitenschiffe 
schmäler  und  niedriger  sind  als  das  Hauptschiff.  Von 


44 


Säule  zu  Säule  dieser  Reihen  geht  ein  Rundbogen; 
über  diesen  Rundbögen  erhebt  sich  eine  Mauer  be- 
deutend höher  als  die  Decke  und  das  Dach  der 
Seitenschiffe,  oben  durch  Fensteröffnungen  das  nÖ- 
Ihige  Licht  einlassend  und  zugleich  das  Dach  des 
Mittelschiffs  tragend.  Dieses  aus  Holz  gefügte  Dach 
bildet  zugleich  die  Decke  des  Mittelschiffs,  oder  es 
ist  eine  besondere  gleichfalls  hölzerne  wagrechte 
Decke  hinzugefügt.  Zuweilen  sind  einige  Rundbögen 
zur  Unterstützung  des  Dachs  quer  durch  das  Haupt- 
schiff gelegt  (vergl.  die  Stiftskirche  in  Gernrode  Tal". 
VI.  und  S.  Prasede  in  Rom);  auch  finden  sich,  wie 
bei  der  Paulskirche  vor  Rom ,  fünf  Schiffe.  Zu 
diesen  architektonischen  Eigenthümlichkeiten  kam 
dann  öfter  noch  eine  besondere,  oben  erwähnte,  por- 
talartige Vorhalle,  nicht  eine  Griechische  Tempelhalle 
mit  dreieckigem  Giebelfeld,  wie  beim  Pantheon,  son- 
dern eine  dem  innern  Bau  entsprechende  Querhalle 
mit  Rundbögen  auf  Säulen,  wie  bei  den  Römischen 
Basiliken  St.  Maria  in  Cosmedin  und  St.  Paul. 
Aber  auch  die  Peterskirche  in  Rom  ist  eine  „Basi- 
lika." Der  ursprüngliche  Bau  ist  durch  einen  spä- 
teren prachtvolleren  ersetzt.  Hier  ist  der  Romani- 
sche Rundbogenstyl  vollständig  durchgeführt.  Die 
schweren  Bögen,  welche  die  Schiffe  trennen,  ruhen 
nicht  mehr  auf  Säulen ,  sondern  auf  mächtigen  Pfei- 
lern ,  das  Haupt-  und  die  Seitenschiffe  sind  mit 
Tonnengewölben  überdeckt.  Durch  das  Gewölbe  des 
Hauptschiffs  sind  Seitenöffnungen  geführt,  welche  die 


45 


Stelle  der  Fenster  in  der  früheren  oberen  Wand  des 
Hauptschiffs  vertreten.  Ausserdem  ist,  entsprechend 
dem  Rundbogenstyl  j  über  dem  Kreuz  eine  Kuppel 
auf  den  hohen  Cirkelwänden  einer  s.  g.  Laterne  er- 
hoben, durch  welche  letztere  eine  Menge  in  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  graden  Abschluss  unter  dem 
Ansatz  der  Kuppel  grade  überdachte  Fensteröffnungen 
geführt  sind.  Aehnliche  Laternen  befinden  sich  über 
den  Quadraten  der  Seitenschiffe.  Auch  das  Chal- 
kidikum  fehlt  nicht  als  mächtige  Vorhalle  zu  dem 
Prachtbau. 

Als  sich  mit  dem  Christenthum  das  ßedürfniss 
der  Kirchen  von  Rom  aus  in"  den  nördlichen  Ländern 
verbreitete ,  wurde  der  Rundbogenstyl  allmälich  be- 
sonders in  Deutschland  allgemeiner  Kirchenstyl.  Na- 
mentlich zeichnet  sich  das  elfte  und  besonders  das 
zwölfte  Jahrhundert  durch  den  Bau  von  Kirchen  in 
diesem,  dem  s.  g.  Byzantinischen, **)  richtiger  Roma- 
nischen oder  Römischen  Styl  aus.  In  Italien  war 
man  reich  an  Säulen  von  alten  Tempeln.  Man  be- 
diente sich  dieser  oft  für  dieselbe  Kirche  ohne  Rück- 


*)  Der  Name  des  Byzantinischen  Styls  ist  bekanntlich 
in  neuerer  Zeit  mit  Recht  auf  die  Gotteshäuser  der  griechischen 
Kirche,  die  nach  dem  Muster  der  Hagia  Sophia  in  Konstantinopel 
erbaut  sind ,  beschränkt.  Der  Byzanthinische  Styl  gehört  zum 
Rundbogenstyl,  und  unterscheidet  sich  von  dem  Romani- 
schen Styl  besonders  durch  das  Vorherrschen  der  Halbkugel  vor 
dem  Bogen,  und  durch  die  damit  zusammenhängende  Beseitigung 
der  Langschiffe. 


46 


sieht  auf  Verschiedenheit  der  Kapitale,  der  grösseren 
oder  geringeren  Durchmesser  u.  s.  w.  Ueberdies 
waren  im  Lauf  der  Jahrhunderte  in  Italien  grosse 
Marmorbrüche  entdeckt  und  geöffnet.  In  Deutsch- 
land dagegen  waren  die  Marmorsäulen  der  alten  Ba- 
siliken schwer  und  nur  mit  grossen  Kosten  herslellig 
zu  machen.*)  Man  war  genölhigt,  dieselben  bald  ab- 
wechselnd bald  sämmtlieh  durch  gemauerte  Pfeiler 
zu  ersetzen.  Diese  Pfeiler  musste  man  stärker 
bauen  ,  als  die  meistens  monolithen  Säulen.  Weil 
stärker,  waren  sie  nun  aber  auch  fähiger,  einem 
stärkeren  Schub  des  Bogens  Widersland  zu  leisten. 
Zur  Unterstützung  des  'hölzernen  Dachs  hatte  man, 
wie  oben  bemerkt,  hin  und  wieder  hohe  Bögen  auf 
noch  mehr  verstärkten  Pfeilern  quer  über  das  Mittel- 
schiff gelegt.  (Vergl.  Taf.  VI.)  Wie  nahe  trat  nun 
der  Gedanke,  erst  die  kleineren  Seitenschiffe,  dann 
das  ganze  Mittelschiff  zu  überwölben,  und  zwar 
nicht  durch  ein  Tonnengewölbe  ,  Avelches  in  seiner 
ganzen  Ausdehnung  eine  starke  tragende  W7and 
und  starke  Widerlage  verlangte  ,  sondern  mittelst 
Bögen,  die  nach  dem  Vorbild  der  Arkadenbögen  von 
Pfeiler  zu  Pfeiler  erst  im  rechten  Winkel  und  dann 
in   der  Diagonale   kreuzweise   die  Abtheilungen  des 


*)  Auch  in  Frankreich  fehlte  es  an  dem  Material  zu  Säulen. 
Der  Abt  Sugerius  wollte  für  die  Basilika  St.  Dionysii  die  Säulen 
aus  Rom  kommen  lassen.  Cf.  Annales  Ordinis  Benedicti  auc- 
tore  Mabillon.    Lucae  1745.    Tom.  VI.  p.  302.  ad  Ann.  Ii 40. 


47 


Schiffes  durchschnitten.  Die  Bögen  und  Kreuzbögen 
hatten  nun  nur  die  leichte  Füllung  der  Gewölbe  zu 
tragen.  Auch  die  Wand  oberhalb  der  Arkadenbögen 
konnte  schwacher  gehalten  und  vielfältig  bis  zur 
Höhe  des  Dachs  der  Seitenschiffe  durch  das  Tri- 
forium,  die  drei  (vergl.  unter  andern  St.  Ursula 
in  Cöln)  oder  mehreren  thürartigen  Oeffnungen  ober- 
halb der  Arkadenbögen ,  durchbrochen  und  verziert, 
oberhalb  des  Dachs  der  Seitenschiffe  aber  mit  grös- 
seren Lichtöffnungen  versehen  werden. 

Je  mehr  aber  nun  die  Last  der  sämmtlschen 
Gewölbbögen  auf  die  Pfeiler  gelegt  wurde,  desto 
stärker  mussten  diese  selbst  sein  ,  um  dem  Druck 
und  Schub  zu  widerstehen.  Dies  war  ein  grosser 
Uebelstand,  weil  dadurch  eine  weit  grössere  Trennung 
der  Seitenschiffe  von  dem  Hauptschiff'  eintrat,  als 
früher  bei  den  dünneren  Säulen  stattgefunden  hatte, 
was  indessen  für  den  Altardienst  weniger  störend 
war,  als  für  das  Anhören  der  Predigt  oder  des  Evan- 
geliums und  der  Epistel.  Im  Uebrigen  war  nun  das 
Rundbogen  -  System  des  inneren  Bau's  in  der 
Hauptsache  vollständig  durchgeführt,  und  fand  all- 
mählig  auch  seinen  vollständigen  Ausdruck  im  Aeus- 
sern.  Nicht  nur  Thüren  und  Fenster  wurden  rund 
überdeckt,  sondern  auch  alle  Verzierungen  in  dem- 
selben Styl  gehalten.  Die  mächtige  noch  ganz  runde 
Absis  wurde  mit  einem  Fries  von  zierlichen  Rund- 
bögen umgeben  ,  hin  und  wieder  wurden  auch  die 
beiden  Enden   des  Kreuzschiffes   mit  einer  runden 


48 


Absis  und  diese  gleichfalls  aussen  mit  Rundbogen- 
Verzierungen  versehen,  selbst  die  viereckigen  Thürme, 
die  meistens  den  runden  vorgezogen  wurden ,  waren 
von  unten  bis  oben  mit  zahllosen  rund  überdeckten 
Fensteröffnungen  verziert,  und  wo  ein  spitzer  Giebel 
mit  groden  Sparren  sich  dem  Auge  zeigt,  scheinen 
die  letzteren  von  unzahligen  ansteigenden  Bögen  ge- 
tragen zu  werden.  (Taf.  VII.  Apostelkirche  in  Coln.) 

Diese  Kirchen  wurden  hauptsächlich  in  den 
Jahrhunderten  der  Kreuzzüge  erbaut  ,  und  ohne 
Zweifel  hatten  diese  einen  nicht  geringen  Einfluss 
auf  ihre  Vervielfältigung.  Das  Predigen  des  Kreuzes 
aller  Orten  rief  eine  ungewöhnliche  Menge  Zuhörer 
in  die  Kirchen  ,  und  der  Orden  der  Benedicliner, 
der  damals  in  hohem  Ansehen  stand,  mochte  wohl 
durch  das  Bedürfniss  aufmerksam  gemacht  und  dem 
allgemeinen  Zuge  im  Interesse  der  Religion  folgend, 
die  Zeitverhällnisse  zu  Gunsten  des  Kirchenbau's  be- 
nutzen. *)  Gewiss  ist,  dass  nicht  wenige  der  bedeu- 
tenderen Bauten  im  Romanischen  Styl  durch  Bene- 
dictiner,  mögen  sie  die  Bauherrn  oder  selbst  die 
Baumeister  gewesen  sein,  errichtet  sind,  so  dass  man 
fast  geneigt  wird,  diesen  Kirchenstyl  vorzugsweise  als 


#  *)  Eine  lesenswerthe  Erzählung  vom  Bau  der  Basilika 

bivensis,  oder  Basilika  St.  Mariac  in  oppido  St.  Petri  supra 
Divam  findet  sich  in  Annal.  Ord.  Bened.  Tom  VI.  p.  362  ad 
Ann.  1145.  —  St.  Pierre  sur  IMves  ist  in  der  Nähe  von  Caen 
in  der  Normandie. 


49 


den  der  Benedietiner  anzusehen.  Leider  sind  die 
Nochrichten  darüber  bisher  nicht  genügend  zusammen- 
gestellt. Je  öfter  sich  aber  die  Kirchen  für  die  sich 
hinzudrängende  Hörer  -  Menge  zu  klein  erwiesen, 
desto  mehr  muste  sich  auch  der  erwähnte  Mangel 
in  ihrem  Bau  bemerklich  machen.  Durch  die  mit 
dem  Gewölbbau  verbundenen  dicken  Pfeiler  wurden 
die  Seitenschiffe  für  den  Gottesdienst,  insonderheit 
für  das  Anhören  der  Predigt  fast  ganz  unbrauchbar. 
Man  hatte  freilich  versucht,  durch  abwechselnd  zwi- 
schen die  Pfeiler  gestellte  Säulen ,  wo  man  solche 
zur  Verfügung  hatte,  dem  Uebel  abzuhelfen:  was 
sich  jedoch  bald  als  ungenügend  und  selbst  als  über- 
flüssig erweisen  musste.  Wie  sehr  die  Breite  des 
Pfeilers  der  Benutzung  des  Raums  für  die  Zuhörer 
hinderlich  sein  musste  ,  kann  man  auch  heute  noch 
selbst  an  vielen  aus  Backsteinen  erbauten  Gothischen 
Kirchen  sehen  ,  aus  deren  Säulen  man  mit  einer 
höchst  naiven  Sorglosigkeit  und  zugleich  Geschmack- 
losigkeit grosse  Stücke  weggehauen  hat ,  damit  aus 
dem'  Seitenschiff  Ein  Auge  mehr  den  Prediger  auf 
der  Kanzel  sehen  könne.  (Vergl.  die  Jacobi-  und 
Catharinen -Kirche  in  Hamburg,  die  Nicolai  -  Kirche 
in  Kiel  und  unzählige  andere.)  So  sehr  sich  nun  bei 
dem  Rundbogenstyl  das  Bedürfniss  der  Verdünnung 
der  Pfeiler  aufdringen  mochte  ,  so  war  doch  hier 
keine  Hülfe.  Der  Schub  des  Bogens,  besonders  des 
Mittelschiffs  war  zu  stark,  zumal  bei  der  viel  gerin- 
geren  Höhe   der  Seitenschiffe  ?   als   dass   man  die 

4 


50 


Widerlage  ,  die  in  der  Dicke  der  Säule  bestand, 
hätte  mindern  dürfen.  Wer  behauptet,  dass  in  den 
Romanischen  Kirchen  die  Säulenweite  selten  die 
Breite  zweier  Pfeiler  erreicht,  dürfte  sich  nicht  irren. 
In  der  Kirche  zu  Wyssel  ist  das  Verhältniss  wie  1 J  zu  1. 


Nun  war  aber  schon  seit  geraumer  Zeit  *theils 
bei  Gebäuden  des  Romanischen  Styls,  theils  bei  an- 
deren eine  vielleicht  aus  dem  Orient  entlehnte 
Ueberdeckung  von  Fenster  -  und  Thüröffnungen , 
welche  sich  indessen,  der  Form  nach,  am  frühesten 
in  den  Schatzhäusern  Griechenlands  und  in  den 
Thoren  einiger  Cyklopischer  Stadtmauern  findet,  an- 
gewendet worden.  Es  war  dies  der  Spitzbogen, 
dem  man  natürlich  eine  dem  Keil  schnitt  des 
Rundbogens  analoge  Construction  gab.  Man  musste 
bald  entdecken,  dass  diese  neue  Art  der  Raumüber- 
deckung den  Schub  des  Bogens  bedeutend  mindere, 
indem  er  ihn  viel  näher  in  die  Richtung  des  senk- 
rechten Drucks  des  Bogens  brachte,  oder  mit  an- 
dern Worten  ,  dass  je  höher  der  Spitzbogen  sich 
erhob,  desto  mehr  die  Richtung  des  Schubs  sich  der 
Axe  des  Trägers  ,  sei  dieser  ein  Pfosten  oder  eine 
freistehende  Säule ,  nähere.  Liesse  sich  der  Schub 
eines  Bogens  vollständig  in  die  Axe  der  Säule  legen, 
so  würde  er  damit  ganz  aulhören,  und  sich  in  ein- 
fachen verticalen  Druck  verwandeln. 


I 


So  war  das  Mittel  gefunden,  die  GewÖlb- 
träger  zu  verdünnen  und  die  grossen  durch  Gewölbe 
überdeckten  Räume  der  inneren  Kirche  möglichst 
wenig  durch  die  Träger  des  Gewölbes  zu  unterbre- 
chen und  zu  beschränken.  Wie  nun  bei  dem  im 
Wesen  jedes  Bogens  liegenden ,  nie  ganz  zu  besei- 
tigenden Schub  die  Widerlage  theils  in  den  Seiten- 
schiffen, theils  in  den  ausserhalb  der  Mauer  verlegten 
Strebepfeilern  vermittelt  wurde,  wie  sich  die 
Construction  der  Kreuzgewölbe  vereinfachte,  wie  die 
früher  zwischen  den  Trägern  der  Quergurten  des 
Mittelschiffs  gestellten  kleineren  Pfeiler  oder  Säulen, 
welche  die  Gewölbe  der  Seitenschiffe  trugen,  gänz- 
lich beseitigt  wurden ,  gehört  nicht  weiter  hieher. 
Genug ,  dieselben  Säulen  genügten  ,  die  Gewölbe 
beider  Schiffe  zu  tragen,  sie  konnten  verglichen  mit 
den  Pfeilern  der  romanischen  Kirchen  im  Verhältniss 
zu  den  überspannten  Räumen  auf  die  Hälfte 
vermindert  werden  und  bewirkten  auf  solche  Weise, 
dass  das  Mittelschiff  und  die  Seitenschiffe  fast  nur 
Einen  grossen  Raum  bildeten,  der  von  der  Kanzel 
aus  in  viel  grösserem  Umfang  konnte  übersehen 
werden ,  wie  die  Kanzel  von  einem  viel  grösseren 
Raum  der  Schiffe,  namentlich  des  ihr  gegenüber 
liegenden  Schiffs  gesehen  wurde. 

Jedoch  mit  der  Entdeckung  dieser  Eigenthüm- 
lichkeit  des  Spitzbogens  war  noch  keine  einzige 
Kirche  gebaut.  Ja,  wer  immer  der  erste  Baumeister 
gewesen  sein  mag ,   der  die  Tragweite  dieser  Ent- 

4* 


52 


deckung  oder  ihrer  Anwendung  auf  den  ganzen 
Kirchenbau  zuerst  erkannte  —  es  wird  am  Ende 
des  zwölften  oder  im  Anfang  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts gewesen  sein  —  musste  er  nicht  fast  ver- 
zweifeln ,  zur  Ausführung  eines  Bau's  nach  diesem 
neuen  Princip  jetzt  noch  eine  würdige  grosse  Ge- 
legenheit zu  finden?  Der  Leser  wolle  die  Frage 
nicht  für  eine  müssige  halten  ,  da  sie  langst  that- 
sächlich  beantwortet  und  der  Zweifel  widerlegt  sei. 
Wir  glauben  annehmen  zu  dürfen,  dass  wenige  sich 
der  Gründe  der  Frage  und  der  Ursachen  ,  welche 
die  thatsächliche  Widerlegung  herbeiführten,  sogleich 
erinnern  werden. 

Das  Königreich  Jerusalem  hatte  beinahe  ein 
Jahrhundert  bestanden.  1187  war  Jerusalem  durch 
Saladin  wieder  erobert.  Die  Theilnahme  der  Völker 
für  Kreuzzüge  war  erloschen.  Die  spateren  Kreuz- 
züge waren  Unternehmungen  der  Fürsten  auf  Betrieb 
der  Päbste.  Indessen  hatte  sich  auch  dem  gemeinen 
Mann  der  Gedanke  aufdrängen  müssen ,  dass  die 
Feinde  des  Christenthums  nicht  bloss  in  Asien  und 
Afrika  zu  suchen  wären  ,  war  doch  auch  gegen  die 
Wenden  das  Kreuz  gepredigt  und  angenommen. 
Ja,  die  inneren  Streitigkeiten,  religiöse  und  politische, 
in  der  christlichen  Welt  Europas  selbst ,  verfehlten 
nicht  an  die  Notwendigkeit  zu  mahnen ,  das  Kreuz 
daheim  für  die  Heimath  zu  predigen.  Die  Zer- 
rissenheit aller  Verhältnisse  einigte  die  ,  welche  sich 
nach  Ruhe   sehnten ,   vorzüglich  in   den  mehr  und 


53 


mehr  aufblühenden  Städten,  und  wenn  sich  eine  wah- 
rere Religion  und  Frömmigkeit  aus  den  hohen  welt- 
lichen Kreisen  in  die  mittleren  der  Städte  und 
einzelner  Klöster  zurückgezogen  hatte,  so  ist  es  wohl 
vorzüglich  diesen  zu  verdanken ,  dass  gerade  um  die 
Zeit,  da  in  Jerusalem  ein  christliches  Königreich  be- 
stand, und  vor  allem,  da  es  wieder  zu  Grunde  ging, 
da  Päbste  gegen  Päbste,  Vasallen  gegen  den  Kaiser, 
und  Kaiser  und  Päbste  gegen  einander  standen  ,  die 
stattlichsten  Kirchen  in  dem  bis  zur  grossartigsten 
Blüthe  entwickelten  Romanischen  Styl  erbaut 
wurden.  In  Gegenden,  wo  für  das  Bedürfniss  des 
Gottesdienstes  auf  so  glänzende  Weise  durch  eine 
Menge  eben  vollendeter  oder  in  der  Vollendung  be- 
griffener Kirchen  gesorgt  war ,  d  a  wenigstens  schien 
kaum  noch  für  Bauten,  wie  wir  sie  in  den  gothischen 
Kirchen  und  Kathedralen  bewundern ,  weder  Raum 
noch  Aufwand  noch  Sinn  und  Aufopferung  erwartet 
werden  zu  können.  Die  Kloster  -  und  die  Welt- 
Geistlichkeit,  bei  welcher  am  ersten  noch  die  Reich- 
thümer  sich  gefunden  hätten ,  ohne  welche  solche 
Werke  nicht  ausführbar  waren,  vergeudeten  dieselben 
meistens  in  Wohlleben ;  und  um  das  Unheil  voll  zu 
machen ,  bekämpften  sich  gerade  um  dieselbe  Zeit 
im  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts  in  Deutsch- 
land zwei  Gegenkaiser  unter  schrecklichen  Zerstö- 
rungen ein  ganzes  Jahrzehent  hindurch,  während  in 
Rom  ein  Pabst  auf  dem  Thron  sass ,  der  mehr  an 
die  Vergrösserung  seiner  weltlichen  Macht  dachte, 


54 


als  an  die  Mehrung  des  Reiches  Christi  auf  Erden. 
Selbst  die  Aussicht,  dass  die  Heilung  von  der  Grün- 
dung einer  neuen  auf  das  Heilige  und  auf  kirchliche 
Zucht  gerichteten  Gesellschaft  ausgehen  könnte,  wie 
man  an  dem  beredten  Bernhard  von  Clairvaux  ein 
Beispiel  gehabt,  schien  durch  das  Verbot  Innocenz  III. 
gegen  die  Gründung  neuer  Orden  vereitelt.  Von 
den  vorhandenen  einen  neuen  Aufschwung  des 
religiösen  Sinnes  und  die  durch  die  kostspieligsten 
Werke  zu  bethätigende  Erzielung  und  Verwirklichung 
eines  neuen  Kirchenstyls ,  den  man  heute  vielfältig 
als  den  vorzugsweise  christlichen  betrachtet,  zu  er- 
warten, schien  in  der  That  durchaus  kein  Anlass. 

Und  dennoch.  —  Die  Bettler  kamen  den  Ar- 
chitekten zu  Hülfe,  die  Bettler  brachten  Reichthümer, 
die  Bettler  forderten  Kirchen  mit  weiten  Räumen 
für  Predigten  ,  die  mehr  denn  je  die  Hörer  in  un- 
glaublicher Menge  anzogen  überall,  die  Bettler,  hier 
durch  das  Beispiel,  dort  durch  Anregung  des  Wett- 
eifers ,  lehrten  auch  aridere  predigen ,  sie  lehrten 
überall  den  neuen  Kirchenbau.  Nur  mit  dem 
grössten  Erstaunen  kann  man  die  rapide  Schnellig- 
keit betrachten,  womit  sich  die  beiden  neuen  Orden 
der  Bettelmönche,  der  Franciskaner  und  Domi- 
nikaner über  ganz  Europa  ausbreiteten. 

Franciskus  von  Assisi  und  Dominicus  aus 
dem  Spanischen  Geschlecht  der  Gussmann  begannen 
ungefähr  gleichzeitig,  im  ersten  Jahrzehent  des  13. 
Jahrhunderts,  diejenige  Thätigkeit  und  Lebensweise, 


55 


welche  man  als  den  Anfang  zur  Stiftung  ihrer  Orden 
ansehen  kann.  Nach  dem  Vorbild  der  Apostel  wollten 
sie  auf  allen  Besitz  verzichtend  das  Evangelium  ver- 
breiten. Armuth  und  Predigen  ,  Predigen  und  Ar- 
muth  waren  die  Grundzüge  ihres  Strebens.  Frau- 
ciskus,  der  weniger  gebildete,  fing  mit  der  Armuth 
an.  Dem  Erbe  seines  reichen  Vaters  entsagend, 
bettelte  er  und  redete  er  für  den  Bau  der 
Kirche  des  St.  Damian.  Später  wurde  er  auch 
der  Wiederhersteller  der  St.  Peterskirche  in  Assisi 
und  der  durch,  den  Portiuncula  - Ablass  so  berühmt 
gewordenen  Kirche  Unserer  Lieben  Frauen  zu  Por- 
tiuncula. Dominicus,  der  fein  gebildete  Spanier,  fing 
mit  der  Predigt  an.  Im  Gegensatz  zu  den  vorneh- 
men pabstlichen  Legaten  ,  welche  in  voller  Pracht 
auftretend  die  Albigenser  in  Languedoc  mit  dem 
Schwert  zur  Anerkennung  der  Oberherrschaft  des 
Pabstes  und  des  pabstlichen  Lehrbegriffs  der  Kirche 
bekehren  wollten,  suchte  Dominicus  bei  einer  stets 
sich  gleichbleibenden  Todesverachtung  und  ruhigen 
Besonnenheit,  nur  mit  den  Waffen  einer  anmufhigen 
und  eindringlichen  Beredsamkeit  die  Schwachen 
und  Abtrünnigen  zu  bekehren  ,  indem  er  auf  allen 
Prunk  verzichtete,  und  in  äusserer  Demuth  und  frei- 
williger Armuth  auftrat.  Beide  hatten  schon  eine 
Anzahl  Gleichgesinnter  um  sich  versammelt  und  halten 
wenigstens  mündlich  im  Jahr  1215,  letzterer  schon 
im  folgenden  Jahr,  trotz  des  früher  erwähnten  Ver- 
bots, durch  eine  Bulle  die  Bestätigung  seines  Ordens 


56 


erlangt.  Innocenz  III.  hatte  bald  durchschaut ,  dass 
diese  neuen  Orden,  welche  für  die  Kirche  und  die 
päbstliche  Lehre  bettelten  und  predigten,  dem  Pabst- 
thum  vom  grössten  Nutzen  sein  würden.  Sie  wurden 
nun  auf  alle  Weise  begünstigt,  und  begegneten 
offenbar  bei  den  Völkern  Europas  einer  Stimmung, 
welche  nach  den  verunglückten  Kämpfen  um  das 
heilige  Grab  gegen  die  Heiden  und  bei  der  allge- 
meinen Missbilligung  des  tragen  Wohllebens  der 
Geistlichen,  sie  überall  willkommen  hiess.  Auf  einem 
Generalkapitel  ,  welches  Franciskus  im  Jahre  1219 
hielt ,  waren  schon  5000  Franciskancr  gegenwärtig. 
Ihre  Klöster  verbreiteten  sich,  als  wüchsen  sie  aus 
dem  Boden,  mit  unglaublicher  Schnelligkeit  über  ganz 
Europa,  besonders  über  Italien,  Frankreich,  England 
und  Deutschland.  Vielleicht  noch  schneller  ver- 
mehrte sich  die  Zahl  der  Klöster  der  Dominikaner. 
Im  Jahr  1221  bestanden  60  Klöster,  im  Jahr  1277 
schon  352 ,  im  folgenden  Jahr  417.  Unter  dem 
Ordensgeneral  Johannes  von  Vecelli  kamen  125 
Klöster  hinzu.  ,, Daher  denn  beinahe  keine  Chronik 
der  Zeit  von  1220  bis  1270,  die  nicht  der  Ein- 
führung und  Bestiftung  eines  oder  beider  dieser 
Orden  in  jeder  bedeutenden  Stadt  gedächte."  (Vergl. 
J.  Grimm  in  den  Wiener  Jahrbüchern  Bd.  32  1825 
über  „Bertholds  des  Franciskaners  Deutsche  Pre- 
digten herausgegeben  von  Chr.  Fr.  Kling.") 

Der  officielle  Name  der  Dominikaner  war  Fra- 
tres  Praedicatores  ,   Prediger-Mönche  ,  der  Francis- 


57 


kaner  Fratres  Minores,  Minoriten.  Die  letztere  Be- 
zeichnung, welche  sich  auf  die  Armuth  bezog,  galt 
eben  so  sehr  von  den  Dominikanern,  als  die  erstere 
von  den  Franciskancrn.  Beide  heissen  und  waren 
Bettelmönche,  beide  zogen  bettelnd  durch  die  Welt 
und  predigten  überall.  Man  wird  sich  kaum 
einen  Begriff  davon  machen,  welche  Menge  Prediger 
jene  zahllosen  Klöster  sowol  über  heidnische  ,  als 
insonderheit  über  alle  christliche  Lander  aussandten. 
Statt  dass  früher  die  Mönche  von  der  Welt  sich  son- 
derten ,  war  es  die  Aufgabe  dieser  ,  die  Welt  auf- 
zusuchen. Die  Päbste  erlaubten  ihnen  ,  dass  sie  in 
jeder  Kirche  predigen,  jedem  die  Sacramente 
austheilen  und  jedem  ein  Begrabniss  auf  ihren 
Klosterkirchhöfen  gestatten  durften.  Alles  strömte 
ihnen  zu.  Oft  sahen  sie  sich  genöthigt ,  unter 
freiem  Himmel  zu  predigen,  wie  der  Franciskaner 
Bruder  Berthold  von  Regensburg  ,  von  dem  die 
Chronisten  aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhun- 
derts wiederholt  erzählen,  er  habe  oft  vor  sechzig 
tausend  Zuhörern  gepredigt.  Die  Weltgeistlichkeit 
führte  bei  Päbsten  und  Fürsten  die  bitterste  Klage, 
dass  ob  der  sich  überall  eindrängenden  Bettelmönche 
die  Parochialkirchen  bei  der  Predigt  der  Parochial- 
geistlichen  leer  ständen  ,  dass  das  Ansehen  der  bi- 
schöflichen Geistlichkeit  zu  Grunde  gehe  ,  dass  alles 
sich  zu  der  Beichte  bei  jenen  dränge,  und  nur  die 
Seligkeit  hoffe  durch  ein  Begrabniss  auf  ihren  Kirch- 
höfen.   Jeder  frage  nur  nach  dem  Rath  der  Pre- 


58 


diger-  und  Minoriten  -  Mönche.  Insonderheit  wen- 
deten sich  auch  die  Vornehmen  den  Bettelmönchen 
zu.  (Bekanntlich  traten  selbst  fürstliche  Personen 
in  den  Orden.)  Ausser  den  eigentlichen  Ordens- 
geistlichen hätten  sie  auch  eine  dritte  Brüderschaft 
erfunden  (die  Tertiarii),  unter  welche  sie  so  allge- 
mein Männer  und  Weiber  aufnähmen  ,  dass  kaum 
einer  oder  eine  übrig  bliebe ,  der  oder  die  nicht 
eingeschrieben  sei.  Dabei  würden  von  diesen  Bet- 
telmönchen Bauten  aufgeführt,  wie  Königliche  Paläste, 
ruhend  auf  hohen  Säulen  u.  s.  w.  Die  Riagen 
über  die  Pracht  und  Höhe  ihrer  Bauten 
wiederholen  sich  öfter.  Schon  im  Jahr  1245  er- 
liess  die  Englische  Weltgeistlichkeit  ein  Klage- 
schreiben über  alle  jene  Beschwerdepunkte  an  den 
König;  und  im  Jahr  1297  sagt  Petrus  Joh.  Olivi 
in  seiner  Professio  über  die  durch  die  Regel  des 
Ordens  vorgeschriebene  Armuth,  im  4.  Punkt,  „Ich 
sage,  die  auffallenden  Uebertreibungen  in  Bauten  für 
welche  grosse  und  ungebührliche  Kosten  verwandt 
werden,  sind  verderblich."  Jedoch  wird  hin  und  wieder 
zu  Gunsten  der  Kirchen  eine  Ausnahme  gestattet.  Man 
sieht  aus  diesen  und  ähnlichen  Klagen  ,  dass  schon 
sehr  bald  nach  der  Stiftung  der  beiden  Orden  der 
Aufwand,  den  sie  für  kirchliche  Gebäude 
machten,  ein  ausserordentlicher  war. 

Es  ist  wohl  schon  von  selbst  einleuchtend,  dass 
sie  diesen  Aufwand  besonders  der  jetzt  aufkommen- 
den neuen  Kirchenbauart  zuwendeten  ,  ja  ,  dass  es 


59 


grade  das  ßedürfniss  weiter  Räume  für  grosse  Ver- 
sammlungen war,  welches  diese  Prediger  veranlassen 
musste ,  überall  ihren  Einlluss  dahin  zu  verwenden, 
dass  man  statt  des  bisherigen  Rundbogenstyls  jetzt 
nur  im  Spitzbogenstyl  baute.  Eng  damit  zusam- 
men hängt  die  grosse  Sorgfalt ,  welche  man  jetzt 
auf  die  Kanzel  verwendete.  Dass  jener  Einlluss 
aber  in  allen  Richtungen  ausserordentlich  weit  reichte, 
erkennt  man  leicht,  wenn  man  bedenkt,  dass  Fran- 
ciskaner  und  Dominikaner,  nachdem  kaum  die  Orden 
gegründet  waren,  bei  Fürsten  und  Päbsten  die  er- 
sten Stellen  einnahmen.  Bettelmönche  waren  die 
Räthe  der  Krone  ,  Gesandte ,  Finanzminister  und 
Schatzmeister.  Bettelmönche  waren  die  ersten  Ge- 
lehrten ihrer  Zeit ,  und  an  der  Pariser  Universität 
wussten  sich  beide  Orden,  trotz  alles  Widerstrebens 
der  Sorbonne ,  in  den  Besitz  eines  Lehrstuhls  der 
Theologie  zu  setzen.  Unter  den  Gelehrten  nennen 
wir  nur  die  Franciskaner  Alexander  von 
Haies,  Bonaventura,  D  u  n  s  Skotus  und  Ro- 
ger Bacon,  die  Dominikaner  Jordan us, 
Raymund  v.  Pegna  forte ,  Albertus  Magnus 
und  Thomas  von  Aquino.  Albertus  Magnus 
war  geboren  1193  in  Lauingen  an  der  Donau,  etwa 
20  Meilen  oberhalb  Regensburg,  seit  1222  Domi- 
nikaner, lehrte  Theologie  und  Philosophie  zu  Cöln, 
Freiburg,  Stassburg,  Regensburg,  Paris. 
1249  wurde  er  Vorsteher  der  Schule  zu  Cöln, 
1254  Prövincial  seines  Ordens  in  Deutschland.  Bald 


60 


nachher  wurde  er  von  Pabst  Alexander  IV.  nach 
Rom  berufen  als  Magister  Sancti  Palatii,  eine  Würde, 
welche  stets  in  den  Händen  der  Dominikaner  ge- 
blieben ist.  1260  ernannte  ihn  der  Pabst  zum 
Bischof  von  Regensburg,  welche  Würde  er  nach 
zwei  Jahren  wieder  aufgab  ,  um  in  dem  Kloster 
seines  Ordens  in  Cöln  als  Weihbischof  dem  Lehr- 
amt und  der  Wissenschaft  zu  leben.  Er  starb  da- 
selbst 1280. 

Albertus  baute  selber  den  Chor  der  jetzt 
verschwundenen  Dominikaner  -  Kirche  zum  heiligen 
Kreuz  (wohl  zu  unterscheiden  von  der  gleichfalls 
verschwundenen  Kirche  des  Klosters  der  Kreuz- 
brüder) in  Cöln  im  golhischen  Styl.  Es  ist  schon 
merkwürdig,  dass  wir  auch  in  Regensburg  eine  der 
frühesten  Spitzbogenkirchen  und  zwar  eine  Do- 
minikanerkirche aus  den  Jahren  1230 — 1240  finden; 
und  dass  wir  den  Albertus  längere  Zeit  an  Orten 
sehen,  wo  die  berühmtesten  Dome  dieses  Styls  er- 
baut wurden,  ausser  Cöln  in  Strassburg,  in  Freiburg 
und  Regensburg.  Dass  ein  Mann  von  so  hohem 
Ansehen  in  der  ganzen  christlichen  Welt,  der  selbst 
einen  Kaiser  zur  Tafel  laden  konnte,  auf  die  dama- 
ligen Kirchenbauten  und  namentlich  auch  auf  den 
des  Dom's  von  Cöln,  wo  er  lebte,  einen  ganz  aus- 
serordentlichen Einfluss  haben  musste,  ist  wohl  ausser 
allem  Zweifel;  und  so  dürfte  nach  dem  ganzen  Zu- 
sammenhang der  Dinge  die  ,  aus  anderen  Gründen 
aufgestellte  und  bestrittene,  Ansicht,  dass  Idee  und 


61 


Plan  des  Cölner  Dom's ,  soweit  er  nicht  die  tech- 
nische Ausführung  befasste,  die  allerdings  einen  ge- 
schulten Baumeister  forderte ,  dem  Albertus  zuzu- 
schreiben sei ,  doch  noch  auf  besseren  Gründen 
ruhen,  als  auf  der  „sinnbildlichen  Bedeutung  die 
durch  das  Gebäude  durchgeführt  sein  soll.  In  ihrem 
Eifer  für  die  neue  Bauart  unterschieden  sich  die 
beiden  Orden  der  predigenden  Mönche  nicht  von 
einander.  Ist  es  nicht  sehr  beachtenswerth ,  dass 
bereits  1228  kurz  nach  dem  Tode  des  Franciskus 
diesem  in  seiner  Vaterstadt  Assisi,  mitten  in  Italien 
eine  gothische  Kirche  erbaut  wird?  Der  Erbauer 
wrar  Jacob  Lapo,  ein  Deutscher,  hiezu  berufen,  der 
Vater  des  berühmteren  Arnolfo  Lapo.    (Taf.  VIII.) 

Die  Pracht  dieser  Kirche  und  auf  der  andern 
Seite  die  ausserordentliche  Einfachheit ,  für  welche 
grade  der  Romanische  Styl,  wie  z.  B.  die  Kirche  in 
Wyssel  bei  Calcar  beweist ,  empfanglich  ist ,  wider- 
legen auf  sehr  entschiedene  Weise  die  Ansicht  Kal- 
lenbachs, die  er  in  seinem  trefflichen  Atlas  zur  Ge- 
schichte der  deutschen  mittelalterlichen  Baukunst  auf 
Anlass  der  Dominikaner-Kirche  in  Regensburg  (Taf. 
XXXII.)  ausspricht:  die  Richtung  zur  neueren  Bau- 
kunst bei  den  Franciskanern  und  Dominikanern  habe 
ihren  Grund  in  der  Einfachheit ,  welche  ihnen  ihre 
Verfassung  auch  selbst  im  Kirchenbau  zur  Vorschrift 
machte.  Die  Richtung  der  Dominikaner  und  Fran- 
ciskaner  auf  die  neue  Baukunst ,  d.  h.  auf  den 
Spitzbogenstyl,   die  allerdings  eine  sehr  entschiedene 


62 


und  vielleicht  ausnahmslose  war ,  hatte  nicht  ihren 
Grund  in  der  Einfachheit ,  sondern  einzig  in  ihrem 
Beruf,  in  dem  Predigtamt  und  in  der  damit  verbun- 
denen Notwendigkeit  der  Erweiterung  der  Räume 
für  Hörer  durch  Schwächung  der  Säulen  und  Er- 
weiterung der  Säulenstellung.  Und  dies  galt  für 
alle  Kirchen.  Wie  wäre  auch  sonst  erklärlich, 
dass  plötzlich  wie  mit  einem  Schlage  der  Roma- 
nische Baustyl  gerade  in  seiner  höchsten  Blüthe 
aufhört,  dass  die  in  diesem  Styl  bereits  angefangenen, 
selbst  halbvollendeten  zum  Theil  grossen  und  pracht- 
vollen Kirchenbauten  nun  in  der  neuen  Bau- 
art weiter  geführt,  und  überall  in  Frankreich, 
Spanien,  England,  Deutschland,  ja  selbst  in  Italien 
neue  Kirchen  mit  noch  grösserer  Pracht  im  gothi- 
schen  Styl  erbaut  wurden? 

Die  Kanzel  hatte  neben  dem  Altar  eine  so 
hohe  Bedeutung  in  der  Kirche  eingenommen  ,  dass 
sie  fortan ,  jedoch  ohne  Beeinträchtigung  des  Altar- 
Raums  und  Chors,  vielmehr  zugleich  zu  dessen  He- 
bung, (wie  ein  flüchtiger  Blick  auf  die  Geschlossen- 
heit des  Chors  und  die  Offenheit  des  von  der  Kanzel 
beherrschten  Raums  zeigt)  den  Baustyl  bestimmt. 
Die  Kanzel  hat  den  neuen  Kirchen-Bau- 
styl,  den  gothischen  Bau  geschaffen. 

Wenn  man  erwägt,  dass  die  Predigt  der  Bettel- 
mönche den  Protestantismus  vorbereitete  ,  dass  die 
Predigt  später  sich  als  ein  Haupttheil  des  pro- 
testantischen   Gottesdienstes    geltend    machte  ,  und 


63 


dadurch  eben  von  der  katholischen  Kirche  sich 
sondernd  in  dieser,  vielleicht  unnöthiger  Weise,  mehr 
und  mehr  zurücktrat ,  so  könnte  es  scheinen ,  als 
hatten  diejenigen  einen  gewissen  Schein  des  Rechts 
für  sich,  welche  in  ihrer  Unschuld  meinen,  die  go- 
thische  Kirche  wäre  im  Grunde  die  protestantische, 
wie  die  romanische  die  katholische.  Wie  irrig  die 
Ansicht  ist ,  wenn  man  auf  die  Entstehung  sieht, 
braucht  nicht  gesagt  zu  werden. 

Der  Name  der  gothischen  Architektur  scheint 
weder  ein  Spottname  zu  sein,  den  die  Italiener  dem 
neuen  Baustyl  ,  als  einem  „barbarischen"  beigelegt 
hätten,  noch  scheint  er  sich  überhaupt  zunächst  auf 
den  Spitzbogen  zu  beziehen.  Vielmehr  nannte 
man  die  Bauart  der  Deutschen  gothisch,  weil  sie 
die  „Willkürlichkeiten  der  Gothen  (Ravenna)  und 
Saracenen  in  kleinen  und  capriciösen  Orna- 
menten, in  hohen  Gewölben  und  bizarren 
Capitälen  nachahmten.  Zu  diesen  fügten  sie, 
sagt  Frisi, die  spitzen  Bögen  und  so  führten  sie 
den  Baustyl  ein ,  den  man  gewöhnlich  die  gothische 
Architektur  nennt."  Will  man  also  den  Namen 
gothische  Architektur  in  germanische  Architektur  um- 
wandeln ,  kommt  man  in  Gefahr,  eine  geschichtliche 
Erinnerung  an  ein  Element  der  Entstehung  dieses 


*)  Frisi  Saggio  sopra  l'architettura  gotica ,  ins  Deutsche 
übersetzt  in  der  (von  Herder  herausgegebenen?)  kleinen  Schrift: 
„von  deutscher  Art  und  Kunst.    Harnburg  1773." 


64 


Styls  aufzugeben  und  nicht  den  Spitzbogen,  der  nicht 
deutschen  Ursprungs  ist,  sondern  ,.die  gothischen  und 
saracenischen  Schnörkel,  Bizarrerien  und  Capricen"  sich 
anzueignen.  Bizarres  findet  sich  auch  heule  selbst 
bei  den  ausgezeichnetsten  Werken  der  Gothik.  Das 
Wesentliche  aber  dieses  Styls  bestand  freilich  nicht 
in  den  Schnörkeln  und  Bizarrerien  , '  sondern  in  der 
Ueberwölbung  weiter  Räume  durch  den  Spitzbogen 
und  in  der  vollständigen  Durchführung  des  Winkels 
statt  des  Kreises  in  allem  Einzelnen  und  in  dem 
grossartigsten  Ganzen.  Ueberall  spricht  sich  der 
Spitzbogen  des  Innern  auch  im  Aeussern  aus.  So 
wie  der  vollendete  Rundbogenstyl  zuletzt  von  den 
Halbzirkeln  der  Absis  und  des  Querschiffs  bis  zu 
dem  kleinsten  Ornament  die  Kreislinie  durchführte, 
so  lag  es  in  dem  Wesen  des  Spitzbogenstyls  zuletzt 
jede  Kreislinie  zu  vermeiden.  Die  Absis  wurde 
eckig  und  gradlinig,  das  QuerschifT  wieder  rechtwin- 
kelig abgeschlossen  ,  das  kreisrunde  Fenster  über 
dem  Portal  vermieden  ,  die  Spitzbogenfenster  nicht 
mit  geschweifter  sondern  mit  gradliniger  Krönung 
gegiebelt ,  die  Thürme  und  Strebepfeiler  spitz  und 
aufstrebend  gedeckt  und  abgeschlossen.  In  allem 
diesem  und  unzähligem  anderem  ist  der  Cölner  Dom 
das  Muster.  Möge  er  nun  auch  eine  Kanzel 
bekommen  wie  St.  Stephan,  und  Prediger 
wie  Bernhard,  Bonaventura  und  Berthold. 

Was   übrigens   die   protestantische   und  jede 
Kirche  betrifft  ?  die  wesentlich  auch  auf  die  Predigt 


65 

berechnet  ist,  so  leuchtet  ein,  dass  keiner  der  frü- 
heren Baustyle  sich  besser  für  diese  eignet,  als  eben 
der  gothische.  Ein  ausgezeichnetes  Muster  einer 
solchen  gothischen  Kirche ,  welche  der  Kanzel  das 
weiteste  Gebiet  eröffnet,  ist  die  Liebfrauen-Kirche  in 
Trier.  Vielleicht  könnte  fraglich  sein,  ob  nicht  die 
Vergrösserung  des  Gebiets  der  Kanzel  in  neu  zu 
erbauenden  Kirchen  noch  weiter  zu  führen  sei ,  als 
bisher  geschehen.  * )  Es  giebt  wohl  wenige  Kir- 
chen, die  eine  grössere  von  der  Kanzel  überseh- 
bare Zuhörer-Menge  fassten,  als  die  in  ihrem  weiten 
Raum  durch  keine  Säule  unterbrochene  grosse  Mi- 
chaeliskirche in  Hamburg.  Dieselbe  ist  im  Rund- 
bogenstyl  erbaut.  Wir  wagen  nicht  zu  behaupten, 
dass  derselbe  Raum  mit  derselben  Sicherheit  sich 
hätte  im  Spitzbogenstyl  überdecken  lassen.  Allein 
die  schon  anderswo  mit  voller  Sicherheit  bestehende 
und  hinreichend  erprobte  Weite  des  Spitzbogens 
würde  für  das  Bedürfniss  der  meisten  Kirchen,  auch 
wenn  man  sie  nach  einem  ähnlichen  Grundriss  er- 
bauen wollte,  genügen.  Der  so  früh  verstorbene 
Eisenlohr  hat  eine  für  Offenburg  bestimmte  gothi- 
sche Kirche  entworfen,  mit  vier  freistehenden  Säulen, 
deren  nur  zwei  die  Kanzel  dem  Zuhörer-Raum  ver- 
decken und  zwar  nur  auf  so  kleine  Ausdehnung,  als 
die  nothwendigen  Zugänge   zu   den  Sitzreihen  ein- 


*)  Vgl.  Geffken  der  St.  Nicoiai-Kircbenbau.  Hamburg  1845. 

5 


66 


nehmen.  Dieses  Modell  scheint  sich  sehr  für  ähn- 
liche Bedürfnisse  neuer  oder  vergrößerter  Gemeinden 
zu  empfehlen.  Dass  Hamburg  sich  eine  neue  Nico- 
lai-Kirche in  reinem  gothischem  Styl  erbaut,  scheint 
uns  übrigens  sehr  entsprechend.  Die  Jacobi-  und 
Katharinen-Kirche  sind  wahrlich  keine  Muster  dieses 
Styls,  und  hätte  Hamburg  nicht  die  von  Chateauneuf 
erbaute  neue  Petri  -  Kirche ,  würde  es  schwer  sein, 
daselbst  sich  einen  Begriff  von  gothischer  Bauart  zu 
erwerben.  Dass  die  Kanzel  auch  diesen  Bau  so- 
wohl im  Plan  als  in  den  Säulen  beherrscht  hat,  ist 
nicht  schwer  zu  sehen.  ?) 


Werfen  wir  nun  noch  einen  Blick  auf  das  zu- 
rückgelegte Gebiet  von  Aegypten  bis  in  unsere  un- 
mittelbare Nähe,  und  erwägen  die  Vereinigung  von 
Stoff,  Form  und  Zweck,  so  ist  wohl  gleich  einleuch- 
tend, dass  der  Aegyptische  Styl  für  Länder  disseits 
des  Miltelmeers  durchaus  nicht  anwendbar  ist.  Auch 
ist  es,  soviel  wir  wissen,  in  Europa  niemandem  ein- 


*)  In  Hamburg  war  schon  1 227  das  Dominikanerkloster 
St.  Johannis  und  das  Franciskanerkloster  St.  Maria  Mag- 
dalena durch  Adolph  IV.  gestiftet.  —  Die  Gesammtzahl  der 
Franciskanerkloster  betrug  im  Jahr  1264  8000  mit  200,000  Mön- 
chen.   Dies  zur  Ergänzung  des  oben  S.  56  Gesagten. 


G7 


gefallen,  im  Aegyptischen  Styl,  zu  bauen,  es  sei  denn, 
dass  man  die  äussere  Stirnseite  des  „Egyptian  house" 
in  London  dahin  rechnen  wollte,  bei  welchem  der 
Aegyptische  Styl  als  D eco rati o n  verwandt  ist.  Man 
wird  darin  höchstens  eine  Sonderbarkeit  erkennen, 
die  den  Nutzen  hat,  dass  sie  die  Veranschaulichung 
eines  Aegyptischen  Bau's  unterstützt. 

Die  drei  übrigen  Style ,  die  wagrechte  Decke 
mit  Giebeldach,  der  Rundbogen  und  der  Spitzbogen, 
mit  ihren  verschiedenen  Tragern  kommen  noch  täg- 
lich in  mannichfacher  Weise  zur  Anwendung.  Sollte 
nun  eine  Regel  aufgestellt  werden,  wonach  die  mensch- 
liche Willkühr ,  —  denn  sie  ist  die  Ursache  der 
Unreinheit  des  Styls  — -  wieder  auf  die  Reinheit  der 
Baukunst  nach  ihrer  naturgemassen  Entwicklung  zu- 
rückgeführt werden  kann  ,  so  würde  zu  fordern 
sein,  dass  jeder  Bau  dem  Baustoff,  den 
klimatischen  und  räumlichenVerhältnissen, 
ferner  dem  Zweck  des  Bau's  entspreche, 
d.  h.  dass  sich  aus  diesen  Bedingungen  die 
Form  des  Bau's  zunächst  in  seinem  Innern 
ergebe.  Demnächst  hätte  das  Innere  des 
Bau's  die  Form  desAeussern  zu  bestimmen, 
nicht  umgekehrt;  noch  weniger  sei  das  Eine 
von  dem  Andern  unabhängig. 

Ist  also  die  Form  des  Innern  im  Ganzen  und 
in  seinen  Theilen  gradlinig  mit  wagrechter  Deckung 
der  von  senkrechten  Wänden  eingeschlossenen  Räume, 
so  sei  auch  die  Form  der  äussern  structiven  Theile 

5  * 


68 


gradlinig,  ist  die  Deckung  im  Innern  rundbogen- 
förmig, so  erscheine  dieses  Innere  auch  äusserlich  in 
der  Deckung  der  Fenster  und  Thüröffnung  u.  s.  w. 
(Vergl.  die  romanischen  Kirchen.)  Ist  die  Deckung 
im  Innern  spitzbogenförmig,  so  erscheine  dieses  Innere 
auch  äusserlich  in  der  Deckung  der  Fenster  und 
Thih  Öffnungen  u.  s.  w.  (Vergl.  die  gothischen  Kir- 
chen). Die  rein  decorativen  Theile  seien  nach  den 
vorhandenen  Musterbauten  jener  drei  Baustyle  ge- 
wählt, oder  in  dem  Geist  jener  Bauarten  neu  geformt. 
(Vorsicht.)  — 

Jede  Abweichung  von  diesen  Regeln  macht  den 
Bau  unrein.  Nur  dem  Grossen,  Ungewöhnlichen  und 
Uebermächtigen  ist,  wie  in  allen  Sphären,  so  auch 
in  der  Baukunst  wohl  gestattet,  sich  von  der  Regel 
Üiit  Weisheit  zu  befreien.  Die  Halbkugel  der 
Deckung  eines  grossen  kreisrunden  Bau's  hebt  die 
Herrschaft  der  wagrechten  Linien  der  Mauer  nicht 
auf.  — 

Ein  Bau  in  den  heute  üblichen  Bauweisen  und 
aus  dem  bisher  üblichen  Material  ist  in  seiner  Ganz- 
heit wagrecht  und  senkrecht  abgeschlossen ,  also 
gradlinig,  daher  harmonirt  die  gradlinige  Mauer,  der 
gradlinige  obere  Abschluss  der  Mauer,  der  gradlinige 
Ansatz  und  First  des  Daches  mit  jedem  dieser  Bau- 
stile. 

Es  ist  für  die  gewöhnliche  Architektur  eine 
unbedingte  Forderung  der  Reinheit  des  Bau's  ,  dass 
jede  Mischung   der  eharacteristischen  Eigentümlich- 


69 


keiten  des  einen  der  drei  Baustyle  mit  denen  des 
andern  entschieden  vermieden  werde.  Es  handelt 
sich  hier  sowohl  für  die  Kunst  als  für  das  gewöhn- 
liche Urtheil  besonders  um  die  Facaden  oder  Stirn- 
seiten der  Gebäude.  Um  also  mit  Kleinem  anzu- 
fangen ,  es  ist  verwerflich  über  den  grade  bedeckten 
Fenstern  abwechselnd  eine  giebelartige  und  eine 
Rundbogen- Verzierung  anzubringen,  eine  Unart,  die 
aus  Palmyra  zu  stammen  scheint.  Es  ist  verwerflich, 
in  einem  gewöhnlichen  Haus  die  Fenster  gradlinig, 
die  Thür  im  Bogen  zu  überspannen,  Es  ist  sehr 
verwerflich  ,  an  demselben  Gebäude  die  Thür  im 
Spitzbogen ,  die  Fenster  im  Rundbogen  zu  über- 
decken. —  Da  ein  Fenster  den  Zweck  hat,  Licht 
und  Luft  in  die  inneren  Räume  einzulassen,  das  bes- 
sere Licht  aber  das  mehr  von  Oben  kommende  ist, 
so  ist  dafür  zu  sorgen  ,  dass  die  Fenster  in  ihrer 
ganzen  oder  je  nach  dem  Styl  in  möglichster  Breite 
so  hoch  hinauf  reichen,  als  die  Architektur  gestaltet. 
Diese  Bestimmung  gilt  im  Allgemeinen  für  grade, 
runde  und  spitzbogige  Fensterdeckung.  Beim  ge- 
wöhnlichen gradlinigen  Häuserbau  mit  wagrechter 
Decke  der  innern  Räume  ist  es  an  sich  ein  Wider- 
spruch ,  Rundbogen-Fenster  oder  gar  Spitzbogen- 
Fenster  anzubringen.  Abgesehen  aber  von  dem 
Mangel  an  Styl  in  solchem  Gebahren,  was  geschieht? 
Man  beraubt  sich  zuerst  des  besten  Lichtes ,  denn 
dieses  wird  durch  die  Mauer  der  beiden  Bogen- 
hälften  verdeckt,  da  man  immer  die  Fenster  an  der 


70 


Seite  eben  so  hoch  führen  kann  ,  als  in  der  Mitte : 
—  man  versieht  sein  Fenster  oben  mit  zwei  Schei- 
benrahmen ,  welche  entweder  nicht  zu  öffnen  sind, 
oder  wegen  der  gerundeten  Form  bald  nicht  mehr 
schliessen  ;  die  innere  Verzierung  der  Vorhänge 
nimmt  mit  Recht  aus  ästhetischen  und  ökonomischen 
Gründen  auf  die  Rundung  gar  keine  Rücksicht,  und 
auch  aussen  sucht  der  Architekt  selber  meistens  den 
Fehler  dadurch  wieder  gut  zu  machen,  dass  er  dem 
Bogen  des  Fensters  ein  gradliniges  Gesimse  giebt. 
Kurz  ,  die  bekanntlich  in  neueren  Zeiten  bei  grader 
Decke  der  inneren  Räume  sehr  üblich  gewordenen 
Bogenfenster  sind  ebenso  wenig  in  Privathäusern  zu 
billigen  als  in  öffentlichen  Gebäuden,  Kranken- 
häusern u.  s.  w.,  wo,  wie  bemerkt,  nicht  nur  das 
beste  Licht  durch  den  Bogen  ausgeschlossen,  sondern 
auch  bei  der  Schwierigkeit,  solche  Quadrantenfenster 
oder  gar  die  als  Halbzirkel  formirten  Klappen -Fen- 
ster zu  öffnen  und  zu  schliessen ,  der  besten  Luft 
der  Zugang  versperrt  wird.  Den  Einwand,  dass  man 
die  oft  weiten  Fensteröffnungen  nur  im  Bogen  über- 
spannen kann ,  wird  wohl  jeder  Architekt  als  einen 
nichtigen  zurückweisen.  Wer  aber  meint ,  es  sei  In 
diesen  Forderungen  doch  zu  weit  gegangen  ,  den 
wollen  wir  einfach  auf  das  Wort  des  Pindar  ver- 
weisen, dass  die  kommenden  Tage  die  wei- 
sesten Zeugen. 

Wenn  nun  schon  im  Einzelnen  die  Verletzung 
der  Reinheit  des  Styls  verwerflich  ist,  wie  noch  viel 


71 


mehr,  wo  es  sich  darum  handelt,  das  ganze  Aeussere 
des  Bau's  in  einem  Styl  aufzuführen ,  welcher  durch 
das  Innere  sofort  der  Lüge  überwiesen  wird.  Wie 
jeder  nur  Halbkundige  es  lächerlich  finden  würde, 
wenn  dem  Cölner  Dom  die  Fagade  eines  griechi- 
schen Tempels  gegeben  wäre,  so  ist  es  durchaus  zu 
verwerfen,  wenn  man  einem  Gebäude,  kleinem  oder 
grossem ,  dessen  innere  Räume  alle  oder  meistens 
wagerecht  überdeckt  sind  und  nach  Zweckmässigkeit 
es  sein  müssen ,  eine  spitzbogige  oder  rundbogige 
Facade  geben  wollte.  In  dieser  Rücksicht  sind  wohl 
die  meisten  niederländischen  Rathhäuser  im  gothi- 
schen  Styl  zu  tadeln.  Das  Rathhaus  zu  Brüssel  hat 
vernünftiger  Weise  grade  überdeckte  Fenster ,  ver- 
räth  aber  um  so  mehr ,  dass  der  gothische  Styl 
seines  Aeussern  nichts  als  Decoration  ist.  Nun 
frage  man,  ob  das  heisst,  in  einem  würdigen,  oder 
überhaupt  in  einem  Styl  bauen?  Es  heisst  nichts 
anderes,  als  eine  Maske  aufführen,  wäre  sie  noch  so 
schön  gearbeitet.  Ein  solches  Gebäude  aber  auch 
im  Innern  im  gothischen  Styl  bauen,  hiesse  nicht  nur 
etwas  an  sich  völlig  unmotivirtes  thun ,  sondern  auch 
einen  sehr  grossen  Höhen  -  Raum  zwischen  den  Ge- 
wölben verschwenden.  Auch  wäre  wohl  zu  beden- 
ken ,  dass  das  gothische  Gewölbe  in  der  That  auf 
der  Voraussetzung  beruht ,  dass  es  nur  zu  decken, 
nicht  aber  auch  zu  tragen  hat.  Stockwerke  im  go- 
thischen Styl,  eins  über  dem  andern,  sind  schwerlich 
zu  billigen  ,   auch  wenn  man  leicht  vermeiden  kann. 


72 


die  Last  des  oberen  auf  die  Gewölbe  des  unteren 
selbst  zu  legen.  Bleibe  der  gothische  Styl  den  Kir- 
chen, die  ihn  geschaffen  haben,  vorbehalten. 

Sind  in  grösseren  Staatsgebäuden  Räume  feuer- 
fest zu  überdecken,  so  scheint  das  flachere  Gewölbe 
des  Kreisbogens  viel  zweckmässiger.  Und  da  diese 
Räume  meistens  im  Keller  und  unteren  Geschoss 
liegen,  so  wird  das  äussere  Hervortreten  des  Rund- 
bogens durch  das  ganze  Gebäude  in  derselben  Höhe 
durchzuführen  sein  ,  und  zwar  in  einem  Material, 
welches  der  massiveren  Bogen-Construction  entspricht. 
Kleine  viereckige  Fensterlöcher  im  Kellergeschoss 
unter  einem  Erdgeschoss  (Parterre)  im  Rundbogen- 
styl sind  nie  schön  —  eben  weil  sie  incorrect  sind. 

Man  hat  es  gerühmt ,  dass  die  neuen  Theile 
Hamburgs  reich  seien  an  Häusern  in  den  verschie- 
densten Stylen;  durch  die  Mannichfaltigkeit  der  Fa- 
nden sei  die  Stadt  für  den  Reisenden  fast  eben  so 
interessant  als  Nürnberg,  und  werde  es  nach  einem 
Jahrhundert  noch  mehr  sein.  Das  sei  zuge- 
geben. Wir  glauben,  Hamburg  wird  einen  grossar- 
tigeren Eindruck  machen  ,  als  Nürnberg  mit  seinen 
vielen  Niedlichkeiten  ,  humoristischen  Einfällen  und 
naiven  Absonderlichkeiten.  Allein  auch  in  Hamburg 
wird  man  wenige  Häuser  finden  ,  denen  man  eine 
höhere  Kunsttheilnahme  zuwenden  möchte.  Gewiss 
ist  es  sehr  interessant ,  wenn  sich  die  Individualität 
einer  Zeit ,  oder  selbst  des  einzelnen  Bauherrn  in 
der  Architektur  ausspricht,  und  man  kann  es  hübsch 


73 

und  selbst  dankenswerth  finden  ,  wenn  der  Bauherr 
oder  Baumeister  seiner  Neigung  und  seinen  Ideen 
folgt.  Es  ist  nur  zu  wünschen,  dass  dies  immer  mit 
ßewusstsein  ,  mit  der  richtigen  Einsicht  in  das  ge- 
schehe, was  die  Reinheit  der  Baukunst  fordert,  und 
was  sich  daneben  die  individuelle  Auffassung  mit 
Recht  erlauben  darf.  Sicherlich  aber  werden  Hauser 
wie  Nr.  20  in  der  Hermannstrasse,  Nr.  52  in  der  Fer- 
dinandstrasse, Nr.  23  auf  den  grossen  Bleichen,  Nr. 
18  am  alten  Jungfernstieg  zu  aller  Zeit  den  Ein- 
druck eines  in  der  Hauptsache  correcten  Baus 
machen  und  auch  bei  der  Nachwelt  die  Anerkennung 
gewinnen  ,  auf  welche  ein  gesunder  Geschmack  und 
Verstandniss  des  Schönen,  von  dem  schon  Plato  sagt, 
„es  sei  schwer,"  Anspruch  haben.  Man  braucht 
solche  Bauten  nur  mit  den  meisten  andern  zu  ver- 
gleichen, um  sich  über  den  Eindruck  klar  zu  werden, 
den  sie,  wie  jetzt,  so  nach  hundert  Jahren  machen 
werden ;  und  sich  darüber  zu  trösten  ,  dass  kein 
neuer  Styl  für  unsere  Zeit  erfunden  ist ,  und  ,  so 
lange  man  aus  Stein  und  Holz  baut,  nicht  leicht  er- 
funden wird.    Rein  bauen  ist  die  Aufgabe. 

In  neuerer  Zeit  bemüht  man  sich  mit  einem 
grossen  Aufwand  von  Forschung  und  Zusammenstel- 
lung über  die  Baumeister  der  berühmtesten  Kirchen 
und  Kathedralen  einige  Vermuthungen  zu  gewinnen. 
Die  Baumeister  merkwürdiger  Wohnhäuser  des  Mit- 
telalters sind  in  der  Regel  völlig  unbekannt.  Gewiss 
ist  der  Wunsch  gerechtfertigt,  es  mochte  der  Name 


74 


des  Baumeisters  jedes  Hauses  tu  die  Stadtbücher 
und  eventuel  in  den  Kaufbrief  eingetragen  werden. 
Die  Nachwelt  würde  es  der  Gegenwart  danken. 

Mit  dem  Bau  einer  Kirche,  eines  Rathhauses, 
eines  Theaters ,  einer  Wohnung  u.  s.  w.  ist  die 
Aufgabe  der  Architektur  freilich  nicht  vollendet.  Hip- 
podamos  baute  Städte.  Wichtiger  als  alles  Einzelne 
ist  das  Ganze.  Dem  Ganzen  sich  unterwerfen,  ihm 
freiwillig  Opfer  bringen,  scheint  heut  zu  Tage  für  den 
Einzelnen  meistens  sehr  schwer,  und  erscheint  man- 
chem auch  bei  andern  so  unbegreiflich,  dass  er 
geneigt  ist ,  für  ein  einfaches  correctes  Verhalten 
armselige  Motive  in  seinem  Kammerlein  auszudenken, 
über  welche  er  sich  selber  weit  erhaben  glaubt. 
Auch  nicht  leicht  scheint  es  auf  der  andern  Seite, 
dass  das  Ganze  und  die  es  vertreten ,  mit  der  rich- 
tigen Einsicht  in  die  Aufgabe  den  Muth  und  die 
Energie  zur  Durchführung  verbinden.  Paris  und 
Hamburg  haben  sich  in  dieser  Beziehung  besonders 
ausgezeichnet.  Der  Neubau  von  Hamburg  ist  ein 
Muster  der  Beherrschung  des  Einzelnen  durch  das 
Ganze,  ein  denkwürdiges  Beispiel  von  Gemeinsinn, 
zum  Vorbild  für  jede  andere  Stadt;  auch  für  solche, 
in  denen  nicht  erst  ein  grosses  gemeinsames  Unglück 
zu  gemeinsamem  guten  Thun  auffordert,  und  zugleich 
die  Opfer,  die  dieses  verlangt,  nur  als  eine  Zugabe 
zu  dem  Hingegebenen  und  Verlorenen  erscheinen 
lasst.  —  Keine  Stadt,  die  einige  Aussicht  auf  Ent- 
wicklung und  Wachslhum  hat,  sollte  es  für  unwe- 


75 


sentlich  halten,  dass  sie  sich  selber  durch  Neues  und 
durch  Erneuerung  des  Alten  in  einem  würdigen, 
correcten,  reinen  Styl  aufbaue.  Ein  weiser  Stadt- 
plan, der  nach  Jahrhunderten  noch  taugt, 
eine  weise  Bauordnung  und  eine  einsichtige 
Baupolizei  sind  u n erl äss lieh e  Forderungen 
an  jede  Stadt,  die  nicht  schwach  auf  sich 
selber  verzichten,  und  bei  jeder  Gelegen- 
heit erst  dann  entdecken  will,  was  sie  hätte 
thun  oder  lassen  sollen,  wenn  es  zu  spät 
ist.  — 

Wer  mit  der  Aeusserung  im  Anfang  dieser 
Schrift  über  den  ethischen  Charakter  der  Architek- 
tonik einverstanden  ist ,  wird  mit  Recht  wünschen, 
dass  auch  die  wissenschaftliche  Behandlung  dieser 
Kunst  allewege  denselben  Character  trage.  Da  des 
Erbärmlichen  und  Thörichten  uns  im  gewöhnlichen 
Leben  genug  begegnet,  so  ist  nicht  nöthig,  es  auch 
noch  in  die  Wissenschaft  und  Kunst  zu  verschleppen. 
Gewiss  ist  die- Wahrheit  in  beiden  niemals  beleidi- 
gend ,  und  gleichwol  machen  wir  täglich  die  Erfah- 
rung, dass  eine  neue  Ansicht,  sei  sie  noch  so  objectiv 
gehalten,  von  denen,  die  bisher  anderer  Ansicht  hul- 
digten, so  aufgefasst  wird,  als  wäre  ihr  nur  dadurch 
zu  begegnen  ,  dass  man  sich  gebahrt ,  als  sei  man 
verletzt  und  habe  gegen  einen  unbegründeten  An- 
griff zu  kämpfen.  Was  in  dieser  Schrift  vorgebracht 
ist ,  soll  niemandem  einen  alten  Irrthum  zum  Vor- 
wurf machen  :  es  soll  eben  nur  in  ehrlicher  Meinung 


76 


das  Wahre  aussprechen.  Zu  architektonischen  Ge- 
sprächen geben  überall  die  zahlreichen  Bauten  nah 
und  fern  vielfachen  Anlass.  Dass  bei  solchen  Unter- 
haltungen ,  an  denen  sich  jeder  gerne  betheiligt,  oft 
Unkunde  und  nur  vermeintliches  Wissen  zu  Tage 
kommt ,  ist  nicht  zu  verwundern.  Um  so  mehr  ist 
zu  wünschen,  dass  in  populärer  Darstellung  eine  ein- 
fache fassliche  Belehrung  zugänglich  werde.  Diese 
möge  hier  gegeben  sein.  Es  ist  damit  nicht  gemeint, 
dass  nur  fremde  Ansichten  und  Aufstellungen  in 
einer  andern  ,  etwa  fasslicheren  Form  wiedergegeben 
wären.  Vielmehr  lag  die  Ueberzeugung  zum  Grunde, 
dass  eben  durch  die  gegebene  Nachweisung  des  Ur- 
sprungs der  vier  hauptsächlichsten  Baustyle  theils 
manche  Fragen  sich  beantworten ,  manche  Ansichten 
sich  berichtigen,  insonderheit  aber  sowohl  das  Wesen 
als  die  Reinheit  jedes  Baustyls  für  jedermann  am 
besten  sich  begründen  liesse.  Und  wie  der  Un- 
verbildete viel  geneigter  ist ,  das  Gute  ,  als  das 
Schlechte  zu  erkennen  ,  so  ist  es  auch  viel  leichter, 
ihm  das  Wahre  begreiflich  zu  machen,  als  das  Fal- 
sche. Möge  denn  diese  Schrift  dem  Leser  erscheinen 
als  eine  solche  ,  die  Wahres  in  leicht  begreiflicher 
Fassung  darstellt. 

Kiel,  im  Sommer  1855. 


Druck  von  C.  F.  Mohr  in  Kiel. 


Innere ^Ansicht  der  Stietskirche 
zu  Geknrode  . 


Taf  IX 


INNERE^SICHT  DEPlELISABEII  ^ IRC  HE 
ZU  MARBURG. 


GETTY  RESEARCH  INSTITUTE 


3  3125  01068  9921